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und kaum einen Blick auf den umdrängenden Ozean werfen. Manch ein
fremdes, aus feiner Bahn verschlagenes Schiff segelte schon in solchen
Zeiten bei nächtlicher Weile über ein Hallig weg, und die erstaunten See¬
leute glaubten sich von Zauberei umgeben, wenn sie auf einmal neben sich
ein freundliches Kerzenlicht durch die hellen Fenster einer Stube schimmern
sahen, die, halb von den Wellen bedeckt, keinen anderen Grund als diese
Wellen zu haben schien. Aber es bricht der Sturm zugleich mit der Flut
auf das lange Eiland ein, die Wasser steigen sechs Meter über ihren Stand
hinauf. Die Wogen dehnen sich zu Berg und Thal, und das Meer sendet
in immer neuen, langen Zügen seine volle, breite Gewalt gegen die einzel¬
nen Werste, um sie ans seiner Bahn wegzuschieben. Der Erdhügel, der
nur eine Zeit lang zitternd widerstand, gibt nach; bei den unausgesetzten
Angriffen bricht ein Stück nach dem andern ab und schießt hinunter. Die
Pfosten des Hauses, welche die Vorsicht ebenso tief in die Werste hinein¬
senkte, als sie darüber hervorstehen, werden dadurch entblößt; das Meer
faßt sie, rüttelt sie. Der erschreckte Bewohner des Hauses rettet erst seine
besten Schafe hinauf auf den Boden, dann flieht er selbst nach, und hohe
Zeit war es! Denn schon stürzen die Mauern, und nur noch einzelne
Ständer halten den schwankenden Dachboden, die letzte Zuflucht. Mit
furchtbarem Siegesübermut schalten nun die Wogen in dem unteren Theile
des Hauses; sie werfen Schränke, Kisten, Betten, Wiegen mit wildem Spiel
durcheinander, schlagen sich immer freieren Durchgang, um alles hiuauszu-
reißen aus den weiten Tummelplatz ihrer unbändigen Kraft, und der Stütz¬
punkte des Daches werden immer weniger, des Daches, dessen Niedersturz
rettungslos einer noch vor wenigen Stunden in häuslicher Geschäftigkeit mit
einander wirkenden oder im sanften Arm des Schlummers neben einander
ruhenden Familie ein schäumendes Grab bereitet. Ängstlich lauscht das
Ohr, ob nicht das Brausen des Sturmes abnehme; ängstlich pocht das
Herz bei jeder Erschütterung; immer enger drängen die Unglücklichen sich
zusammen. In der Finsternis sieht keiner das entsetzenbleiche Antlitz des
anderen; im Donnergeroll der tobenden Wogen verhallt das bange Gestöhn;
aber jeder kann an seiner eigenen Qual die wartende Angst seiner Lieben
ermessen. Der Mann preßt das Weib, die Mutter ihre Kinder mit ver-
zwcifluugsvoller Todesgewißheit an sich; die Bretter unter ihren Füßen
werden von der drängenden Flut gehoben; aus allen Fugen quellen die
Wasser auf, das Dach wird durchlöchert vom Wogensturz, ein irrer Mond¬
strahl dringt durch die zerrissenen Wolken, füllt hinein auf die Jammer¬
scene, die, von seinem bleichen, zuckenden Lichte beleuchtet, in all ihrer
Furchtbarkeit erscheint und die angstverzerrten Gesichter einander spiegelt.
Da kracht ein Balken. Ein furchtbarer Schreckruf! Noch eine martervolle
Minute! Noch eine! Der Dachboden senkt sich nach einer Seite, ein neuer
Flutenberg schäumt herauf, und — im Sturmgeheul verhallt der letzte
Todesschrei. Die triumphierenden Wogen schleudern sich einander Trümmer
und Leichen zu.
Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat, liebt sie über alles,
und der aus der Sturmflut Gerettete baut sich nirgends sonst wieder an
als auf dem Fleck, wo er alles verlor, und wo er in kurzem wieder alles
und sein Leben mit verlieren kann.
Biernatzki.