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nebst sieben Geschwistern in einer Reihe und ließen sich von
ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vogel in mein
Taschentuch, und nachdem ich noch hier und dort herum¬
geschweift hatte, kam ich wieder in ein kleines Gehölz. Hier,
dachte ich, hast du Ruhe, um einmal nach deinen Zaunkönigen
zu sehen. Als ich aber das Tuch öffnete, entschlüpften sie mir
beide und waren sogleich im Gebüsch verschwunden, so daß mein
Suchen nach ihnen vergeblich war. Am dritten Tage kam ich
zufällig wieder an dieselbe Stelle, und da ich die Locktöne eines
Rotkehlchens hörte, so vermutete ich ein Nest in der Nähe,
welches ich nach einigem Umherspähen auch wirklich fand. Wie
groß war aber mein Erstaunen, als ich in diesem Neste neben
beinahe stüggen jungen Rotkehlchen auch meine beiden jungen
Zaunkönige fand, die sich hier ganz gemütlich untergethan hatten
und sich von den alten Rotkehlchen füttern ließen. Ich war im
hohen Grade glücklich über diesen höchst merkwürdigen Fund.
Da ihr so klug seid, dachte ich bei mir selber, und euch so
hübsch habt zu helfen gewußt, und da auch die guten Rot¬
kehlchen sich euer so hilfreich angenommen, so bin ich weit ent¬
fernt, so gastfreundliche Verhältnisse zu stören; im Gegenteil
wünsche ich euch das allerbeste Gedeihen."
„Das ist eine der besten Geschichten von Vögeln, die mir
je zu Ohren gekommen," sagte Goethe. „Wer das hört und
nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die
Propheten."
306. Merkwürdige Eigentümlichkeiten
des Hundes.
(Bernstein.)
Es gibt kein Tier, das so ganz und gar ein Eigentum der
menschlichen Gesellschaft geworden ist als der Hund; es gibt
keins, das gleich dem Hunde geistig so herangebildet werden
kann, daß es ganz auf des Menschen Neigung und Bedürfnis
willig eingeht und ein richtiges Verständnis von feinem Ver¬
hältnis zum Menschen hat.
Fast alle Tiere sind in ihrem Dasein nur auf ein be¬
stimmtes Klima angewiesen; aber gleich dem Menschen, der in
heißen und in kalten Zonen lebt, vermag der Hund sich unter
allen Himmelsstrichen zu erhalten. Fast in jedem gezähmten
Tiere liegt eine besondere Neigung oder Fähigkeit, die es ge¬
schickt macht zu einer bestimmten Leistung. Im Hunde dagegen
liegen die verschiedensten Neigungen und Fähigkeiten, und je
nach der Erziehung bildet sich die eine oder die andere bei ihm