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7. Als drauf ohn' alle Fährde
der Graf sich niederließ
und neben in die Erde
die Jägerstange stieß,
da griff mit beiden Händen
der Kaiser nach dem Schaft:
„Den Spieß muß ich mir pfänden,
ich nehm' ihn mir zur Haft.
8. Der Spieß ist mir verfangen,
des ich so lang begehrt,
du sollst dafür empfangen
hier dies mein bestes Pferd.
' Nicht schweifen im Gemälde
darf mir ein solcher Mann,
der mir zu Hof und Felde
viel besser dienen kann."
9. „Herr Kaiser, wollt vergeben!
Ihr macht das Herz mir schwer.
Laßt mir mein freies Leben,
und laßt mir meinen Speer!
Ein Pferd hab ich schon eigen,
für eures sag' ich Dank;
zu Rosse will ich steigen,
bin ich mal alt und krank."
10. „Mit dir ist nicht zu streiten,
du bist mir allzu stolz.
Doch führst du an der Seiten
ein Trinkgefäß von Holz:
nun macht die Jagd 'mich dürsten,
drum thu' mir das, Gesell,
und gib mir eins zu bürsten
aus diesem Wasserguell!"
11. Der Graf hat sich erhoben,
er schwenkt den Becher klar,
er füllt ihn an bis oben,
hält ihn dem Kaiser dar.
Der schlürft mit vollen Zügen
den kühlen Trank hinein
und zeigt ein solch Vergnügen,
als wär's der beste Wein.
12. Dann faßt der schlaue Zecher
den Grafen bei der Hand:
„Du schwenktest mir den Becher
und fülltest ihn zum Rand,
du hieltest mir zum Munde
das labende Getränk;
du bist von dieser Stunde
des deutschen Reiches Schenk."
Nhland.
85. Der kleine Börsenhändler.
Es traf einmal ein kleiner Knabe einen stattlichen Herrn in Offizier¬
kleidung an, der mit einer jungen Dame an einem schönen Morgen im
Thiergarten bei Berlin lustwandelte. Der Thiergarten ist aber ein schöner,
schattiger Wald mit lieblichen Gängen, dicht bei Berlin, der großen Stadt,
in welcher der König wohnt. Der Kleine bat, ihm eine von den kleinen
Börsen abzukaufen, wovon er einen ganzen Vorrat in einem Kästchen vor¬
zeigte. Der Herr cntgcgnete: „Ich bedarf der Waare nicht," und ging
weiter. „Lieber Herr Lieutenant," begann der Kleine, neben dem Herrn
herlaufend, „so kaufen Sie doch etwas für die Mamsell da; meine arme
Mutter strickte diese Börsen, und wenn ich kein Geld mitbringe, so haben
wir diesen Abend nichts zu essen." Er erzählte hierauf, der Vater sei
Soldat gewesen, bei Leipzig geblieben, und er habe noch zwei kleinere Ge¬
schwister. Der Herr sah dem Kinde in das Offene, ehrliche Gesicht, fragte
nach dem Preise, nahm, da der Knabe zwei Silbergroschen für das Stück
forderte, ein Dutzend und gab ihm ein großes Goldstück, zehn Thaler an Wert.
„Ja, lieber Herr Lieutenant," sagte der Junge und besah das große, blanke
Goldstück, „darauf kann ich nicht herausgeben." Der Herr meinte daraus,
er solle es nur behalten und seiner Mutter bringen, erkundigte sich nach
deren Namen und Wohnung, setzte seinen Spaziergang fort und überließ
den Kleinen seinem Staunen und Entzücken. Nach Verlaus einer guten
Stunde trat ein Adjutant des Königs in die ärmliche Wohnung der Mittler
und erkundigte sich nach der Wahrheit der Aussagen des Knaben. Der
edle König und dessen liebenswürdige Tochter, damalige Prinzessin Alexan-
drine, waren es gewesen, denen Gott, der Vater der Armen, das Kind ge¬
sandt hatte, um der Mutter Not zu lindern und ihr die Thränen über
den Verlust des gefallenen Gatten und Vaters zu trocknen. Die eingeholten