125
der Morgenseite auf eine blumenreiche Wiese tritt, sieht man wenige,
vielleicht keine Blumen, weil alle der Sonne zugewendet sind; von der
ALendseite prangt dann alles voller Blüthen. Auch am Morgen auf
der Wiese, wenn es früh ist, sieht man von Morgen kommend, keine
Blumen; erst wenn die Sonne wirkt, kehren sie sich gegen Morgen.
Einige öffnen sich der Sonne erst um 12 Uhr Mittags, einige öffnen
sich nur bei Nacht, wie die prächtige Fackeldistel, die nur wenige
Stunden blüht.
I. Bäume.
46♦ Der Apfelbaum.
Gewiß, der Apfelbaum ist uns wohl der nützlichste von allen
Obftbäumen, und seine Gestalt ist ansprechend. Über dem starken
Stamme breitet sich die Krone lustig aus, und auch seine Blätter haben
eine angenehme Form. Im Frühlinge sehen wir ihn in seiner ersten
Herrlichkeit vor uns aufgestellt. Ist er dann nicht einem großen Rosen-
stocke zu vergleichen, woran Knospe an Knospe sich schmiegt? Denkt
euch den Baum dagegen, wie er noch zu Anfang des April erschien!
Da stand er kahl, seine Äste wie todte Balken, seine Zweige wie dürre
Reiser. Brachen wir eine Knospe ab, so war sie unansehnlich, wie
ein zusammengerolltes Kügelchen von grünem und gelbem Stoffe, woraus
nimmer das zu werden schien, was wir jetzt v?r uns sehen. Hat sich
aber das Knöspchen entwickelt, so ist die braune Hülle auch abgefallen;
zartere, grüne Blättchen sind nun die Hülle der Blüthen, welche oft
noch schüchtern hervorschauen und mildere Lüfte erwarten, um sich ganz
zu erschließen. Diese in der Enthüllung begriffenen Knospen sind an-
muthiger, die bereits entfalteten aber herrlicher. Jene, mit dem Grün
der Hoffnung umhüllt, sagen uns: Bald wird's erscheinen, und wir
wünschen und hoffen; — diese sagen uns: Es ist erschienen, und wir
rufen erfreut: O wie herrlich!
Aber aus der Pracht soll der Segen hervorgehen; darum ver¬
schwindet sie nach kurzer Zeit. Seht, schon fallen die Blüthenblättchea
nieder, wenn geflügelte Sänger nur durch ihre geschmückten
Festhallen durchschlüpfen! Bald werden sanfte Lüfte, die uns jetzt den
Blüthenduft zuwehen, die Blüthenblättchen selbst mit fortführen und auf
den grünen Nasen streuen. Eine Zeit lang bleibt uns dann nur der
Baum mit seinen frischen grünen Blättern als Hoffnungszeichen;
aber hernach kommt die Zeit der schönsten Erfüllung. Allmählich
färben sich die aus dem Laube hervorblickenden Äpfel, sie werden größer
und schöner; endlich neigen sich schwerbeladen die Äste und Zweige.
Die Blüthen waren unzählig, und wer übersieht die Fülle der Früchte:
Hätten aber alle Blüthen Früchte gebracht, der Baum hätte seine Last
nicht tragen können und hätte brechen müffen. Wie weise und gut!
Und glänzt die Herbstsonne auf den Äpfeln, und haben sie lange genug
getrunken den kühlen Morgenthau, dann strecken wir gern die Hände