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gleichsam sagen: Uns hat Allmacht und Weisheit geboren, und Liebe
spendet uns aus.
Hat so der Strauch seine Gaben dargereicht, dann verkünden einige
Monate darauf seine gelben und braunen Blätter uns sein Einschlafen.
Sie fallen zur Erde und düngen den Boden, stttS welchem der Strauch
fürs kommende Frühjahr neue Kraft zieht.
Ja, der Johannisbeerstrauch ist schön! Er prangt zwar nicht mit
duftenden, prachtvollen Blüthen, wie der Rosenstock; aber dennoch ge¬
währen seine Blätter und reifen Beeren einen angenehmen Anblick. Er
erfreut uns nicht bloß durch äußere Schönheit, sondern auch durch eine
Fülle wohlschmeckender Früchte.
86. Der VZerrrsto«L.
Am Tage der Schöpfung rühmten die Bäume gegen einander froh¬
lockend ein jeglicher über sein eigenes Dasein. „Mich hat der Herr
gepflanzt," sprach die erhabene Eiche, „Festigkeit und Anmuth,
Stärke und Dauer hat er in mir vereinigt." — „Jehova's Güte
hat mich zum Segen gesetzt," sprach der umschattende Ahorn, „Nutzen
und Schönheit hat er in mir vermählet." — Der Apfelbaum
sprach: „Wie ein Bräutigam unter den Jünglingen, prange ich unter
den Bäumen des Waldes." — Und der Flieder sprach: „Wie un¬
ter den Dornen die Rose, stehe ich unter den niedrigen Gesträuchen."
So rühmten alle, der Kirsch- und Pflaumenbaum, selbst die
Fichte und Tanne rühmten.
Der einzige Weinstock schwieg und sank zu Boden. „Mir,"
sprach er zu sich selbst, „scheint alles versagt zu sein: Stamm und Äste,
Blüthen und Früchte; aber so wie ich bin, will ich hoffen und warten."
Er sank darnieder und seine Zweige weinten.
Nicht lange wartete und weinte er, da trat der Mensch zu ihm.
Er sah ein schwaches Geschöpf, ein Spiel der Lüfte, das unter sich sank
und Hülfe begehrte. Mitleidig richtete er's auf und schlang den zarten
Baum an seiner Laube hinauf. Froher spielten anjetzt die Lüfte mit
seinen Reben, die Gluth der Sonne durchdrang seine harten, grünenden
Körner, bereitend in ihnen den grünen Saft, den erheiternden Trank
für die mühbeladenen Menschen. Mit reichen Trauben geschmückt neigte
bald der Weinstock zu seinem Herrn sich nieder, und dieser kostete sei¬
nen erquickenden Saft und nannte ihn seinen Freund, seinen dankbaren
Liebling. Die stolzen Bäume beneideten ihn jetzt; denn viele standen
entfruchtet da. Er aber freute sich voll Dankbarkeit seines geringen
Wuchses, seiner ausharrenden Demuth. Darum erfreut sein Saft noch
jetzt des traurigen Menschen Herz und hebt empor den niedergesunkenen
Muth und erquickt den Betrübten.
Verzage nicht, Verlassener, und harre duldend aus! Im unansehn¬
lichen Rohre quillt der süße Saft. Die schwache Rebe gebiert den er¬
quickendsten Trank der Erde.