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Sie gingen miteinander und fanden wirklich eine arme, höchst unglück¬
liche, aber rechtschaffene Familie, die es verdiente, daß ihr solche Hilfe zu
teil ward. Geliert übernahm es, den Leidenden ärztliche Hilfe zu verschaffen
und der Kaufmann versprach, die Kranken mit labenden und stärkenden
Speisen und Getränken zu versorgen. — Von Kummer und Sorge nicht
wehr gebeugt, konnte die Frau nun eine um so aufmerksamere Kranken¬
wärterin sein, und zweckmäßige Arzneien und stärkende Nahrungsmittel
stellten die Kranken in kurzer Zeit ganz her. Doch der gebesserte X . . .
that noch mehr. Dem wieder gesund gewordenen Mann gab er Arbeit,
seinen ältesten Sohn nahm er zum Markthelfer an, für die noch übrigen
kleinen Kinder bezahlte er das Schulgeld und wollte dann auch für sie sorgen,
daß sie einmal ihr Fortkommen fänden.
142. Drei Freunde.
Johann Gottfried Herder. Sämtliche Werke. 4. Band. Stuttgart und Tübingen, 1862. 8.58
Traue keinem Freunde, worin du ihn nicht geprüft hast; an
der Tafel des Gastmahls giebt’s mehr derselben als an der Thüre
des Kerkers.
Ein Mann hatte drei Freunde; zwei derselben liebte er sehr;
der dritte war ihm gleichgültig, ob dieser es gleich am redlichsten
mit ihm meinte. Einst war er vor Gericht gefordert, wo er un¬
schuldig, aber hart verklagt war. „Wer unter euch,“ sprach er,
«will mit mir gehen und für mich zeugen? Denn ich bin hart ver¬
klagt worden, und der König zürnet.“
Der erste seiner Freunde entschuldigte sich sogleich, daß er
nicht mit ihm gehen könne wegen anderer Geschäfte. Der zweite
begleitete ihn bis zur Thüre des Richterhauses; da wandte er sich
Und ging zurück, aus Furcht vor dem zornigen Richter. Der dritte,
auf den er am wenigsten gebaut hatte, ging hinein, redete für ihn
und zeugte von seiner Unschuld so freudig, daß der Richter ihn
losließ und beschenkte.
Drei Freunde hat der Mensch in dieser Welt. Wie betragen
sie sich aber in der Stunde des Todes, wenn ihn Gott vor Gericht
fordert? Das Geld, sein bester Freund, verläßt ihn zuerst und
geht nicht mit ihm. Seine Verwandten und Freunde begleiten ihn
bis zur Thüre des Grabes und kehren wieder in ihre Häuser. Der
dritte, den er im Leben oft am meisten vergaß, sind seine wohl¬
thätigen Werke. Sie allein begleiten ihn bis zum Throne des
Richters; sie gehen voran, sprechen für ihn und finden Barmherzig¬
keit und Gnade.