Full text: Lesebuch für die reifere weibliche Jugend

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getreten. Kaffee und Tee hatten sich verhältnismäßig rasch ein¬ 
gebürgert und, bei der städtischen Bevölkerung wenigstens, die 
Morgensuppen und teilweise das Hausbier verdrängt. Das Not¬ 
jahr 1817 machte nach manchen vorhergegangenen Versuchen die 
Kartoffel zu einem Volksnahrungsmittel ersten Ranges. 
Übrigens — und damit kommen wir auf einen der aller¬ 
wesentlichsten Unterschiede zwischen der Hauswirtschaft bis vor 
fünfzig Jahren und der heutigen — galt in bezug auf die Be¬ 
köstigung und einige andre wichtige Lebensbedürfnisse der Grund¬ 
satz. daß, was im Hause gebraucht und verzehrt werden sollte, im 
Hause hergestellt und bereitet sein mußte. Ja, soweit es irgend 
anging, musste auch die städtische Haushaltung die notwendigen 
Lebensbedürfnisse selber erzeugen. Viele alte Häuser, die vom 
Vater auf den Sohn vererbt waren, bedeckten große Grundflächen: 
zu ihnen gehörten ausgedehnte Höfe mit Stallungen und andern 
Nebengebäuden, auch wohl kleine oder große Gärten. War für 
diese zwischen den Rückseiten der Straßen nicht Raum, dann 
kauften oder pachteten begüterte Familien einen Garten vor dem 
Tore, nicht sowohl des Naturgenusses wegen, als um Obst und 
Gemüse für den eignen Gebrauch zu ziehen. Nicht selten trieb 
auch der städtische Hauswirt Kleinviehzucht. Dann lieferte der 
Hühnerstall je nach der Jahreszeit Eier oder einen feinen Braten. 
Zu Eingang des Winters wurde ein Schwein geschlachtet, die 
Rauchkammer füllte sich für Monate mit Speck. Schinken und 
Würsten. 
Was man nicht selbst produzieren konnte, das kaufte man 
wenigstens tunlichst ohne Vermittlung von dem Landwirt, der in 
der Umgegend wohnte. In manchen Häusern gab es eine Roggen- 
kiste. in den meisten eine Mehlkiste; denn das Brot wurde von 
der Hausfrau oder der Magd angemengt: nur das Garmachen 
des Teiges überließ man dem Bäcker. Riesige Vorräte von 
Kartoffeln, Äpfeln, Birnen, Pflaumen, Kohl, Rüben, Bohnen. 
Küchenkräutern, wildwachsenden Beeren kamen im Herbst ins 
Haus: ste mussten den ganzen Winter vorhalten. Der Michaelis¬ 
markt war in Nordwestdeutschland der Zeitpunkt,wo der Landmann 
zu guter Letzt vor der unwegsamern Jahreszeit seine sonstigen 
Erzeugnisse: Brennholz und Torf, Federn, Flachs. Wolle, Honig. 
Grütze, in der Stadt feilbot. Nur wenn das Wetter weich blieb, 
gab es noch zu Martini einen schwunghaften Handel mit Winter¬ 
vorräten. insbesondre mit fetten Gänsen, die wohl gerupft, abel- 
weiter nicht vorgerichtet in die städtische Küche wanderten. 
Viele Vorräte zu haben, war der Stolz der deutschen Haus¬ 
frau. Noch schnurrte an Winterabenden lustig das Spinnrad, 
nicht bloß auf dem Lande, wo die Mägde in Ermangelung der 
Feldarbeit sonst nicht geniigend beschäftigt gewesen wären, auch 
im städtischen Haushalt der bürgerlichen Stände. Es galt für 
einen feinen Ruhm, wenn die Hausfrau zu den vornehmsten 
Stücken ihrer Leinenaussteuer, zu dem Damastgedeck, zu den Be-
	        
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