Full text: Lesebuch für die reifere weibliche Jugend

376 
zügen der Gastbetten, das Garn selbst gesponnen hatte. Daß jedes 
Stück dieser Aussteuer, die auf lebenslängliches Vorhalten be¬ 
rechnet war, dereinst von der Braut und ihren Schwestern eigen¬ 
händig genäht und gezeichnet war. galt der tüchtigen Bürgers¬ 
frau als eine Ehrensache. Es wäre auch schwer anders zu machen 
gewesen. Fertiges Leinen konnte man wohl kaufen, aber nicht 
fertige Wäsche oder gar die gesamte fertige Aussteuer. 
Wie in diesem Punkt, so hielt man überhaupt in den Zeiten, 
von denen wir reden, den Grundsatz hoch: „Was man selbst machen 
kann, das muh man nicht kaufen." Man ah nicht bloh selbst¬ 
gebackenes Brot, man kleidete sich am liebsten in selbstgesponnene 
und selbstgenähte Stoffe. Praktische Hausfrauen feierten einen 
Triumph über den andern, wenn es ihnen gelungen war, die 
Arbeit dieses und jenes Handwerkers überflüssig zu machen. Diese 
färbte ihre alten Kleider neu auf: jene bereitete Kartoffelstärke. 
Eine dritte sammelte monatelang alle Fettabfälle und kochte 
Seife. Eine vierte zertrennte nach Bedarf ihre Betten, reinigte 
selbst die Federn und stopfte sie wieder ein. Als man der Mühe 
überdrüssig zu werden anfing, die Fuhböden von weihem Holz zu 
scheuern, nahm manche selber den Pinsel zur Hand und strich mit 
der eigenhändig aus Pigment und Öl bereiteten Farbe die Dielen. 
Vollends das ganze Gebiet der Kleidung setzte die Hände 
der Frauen unablässig in Bewegung. Mit Ausnahme des 
Hausherrn und der erwachsenen Söhne, die mit der Be¬ 
schaffung ihrer Anzüge notgedrungen dem Schneider in die 
Hände fielen, trugen sämtliche Familienglieder kaum je irgend¬ 
ein Stück, das nicht im Hause angefertigt worden wäre, sei es 
von den weiblichen Hausgenossen allein, oder mit Hilfe von ge¬ 
schulten Arbeiterinnen, die auf Taglohn kamen. Noch muhte 
jeder Stich mit der Hand genäht werden, wie auch jeder Strumpf 
im Hause gestrickt wurde. Begreiflicherweise führten sowohl die 
Vorliebe für das Selbstangefertigte, wie die gebotene Rücksicht 
auf Sparsamkeit dazu, alle diese Gegenstände so dauerhaft wie 
möglich herzustellen und durch Ausbessern, Wenden und Ändern 
solange wie möglich zu erhalten. 
Auf Reinlichkeit hielt eine gute deutsche Hausfrau damals 
nicht weniger als jetzt. Beim grohen Neinmachen im Frühjahr 
und Herbst blieb kein handgrohes Fleckchen im ganzen Haufe von 
Besen und Scheuerbürste unberührt: daneben wurde die tägliche 
und wöchentliche Reinigung der im Gebrauch befindlichen Räume 
nicht vernachlässigt. Freilich war bei der soviel einfachern, 
schmucklosern Einrichtung die Arbeit auch einfacher. Es gab in 
bürgerlichen Häusern noch keine Atlasmöbel mit Holzschnitzerei, 
keine Marmorfiguren, keine zerbrechlichen Majolikaschalen, keine 
Smyrnateppiche. Die Wäsche, meinte man, könne nicht zu ihrem 
Rechte kommen, wenn sie nicht mit Lauge behandelt und auf 
Rasen gebleicht wurde. Und da das ein weitläufiges Verfahren 
war, sammelte man auf und hielt nur zwei- oder dreimal im Jahr
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.