Full text: Lesebuch für die reifere weibliche Jugend

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hat etwas Rührendes und Beneidenswertes, zu sehen, wie sie in 
Gefahr und Sorge ruhig und heiter zu Gott wie zu ihrem Vater 
aufschaut, der ja nur das Veste für sein Kind wollen kann. 
Man kann sich die Freude dieses Mutterherzens vorstellen, 
als der geliebte Sohn zu immer höhern Ehren aufsteigt, in jungen 
Jahren erster Minister eines Herzogtums, der Freund von Fürsten 
und großen Männern wird und als Dichter einen Ruhm erwirbt, 
der ganz Europa erfüllt. Wenn der Sohn in der freien Zeit, die 
ihm übrigbleibt, zum Besuche nach Frankfurt kommt, dann ist sein 
Aufenthalt für die Mutter ein einziger großer Festtag. Eine be¬ 
sondre Freude erlebt Frau Rat, als ihr ältester Enkel sie besucht, 
mit dem sie wieder jung wird. Rach seiner Abreise unterhält sie 
mit ihm einen regen Briefwechsel. Da schreibt sie ihm einmal: 
..Es ist Deine Pflicht. Deinen lieben Eltern gehorsam zu sein und 
ihnen vor die viele Mühe. die sie sich geben. Deinen Verstand zu 
bilden, recht viele, viele Freude zu machen ... Ich weiß aus Er¬ 
fahrung. was es heißt, Freude an seinem Kinde zu erleben — Dein 
lieber Vater hat mir nie. nie Kummer und Verdruß verursacht 
— darum hat ihn auch der liebe Gott gesegnet, daß er über viele, 
viele emporgekommen ist — und hat ihm einen großen, aus¬ 
gebreiteten Ruhm gemacht." 
Im steten Verkehr mit den Freunden des Hauses und des 
Sohnes verlebte sie einen heitern Lebensabend. Am 13. Sep¬ 
tember 1808 erlosch dieses merkwürdige Frauenleben, das in seiner 
Umgebung so lichten Schein verbreitet hatte. Die Trauerbotschaft 
erschütterte den Sohn aufs tiefste. „Er war ganz hin." berichtet 
darüber einer seiner Freunde. Auch er ist längst zur Ruhe ge¬ 
gangen. Wenn aber sein Riesengeist vor unsern Augen erscheint, 
dann begleitet ihn stets das ewig heitere Antlitz seiner unverge߬ 
lichen Mutter, der Frau Rat. 
234. Ein Brief der Königin Luise an ihren Vater. 
Jeder Brief, den ein bedeutender Mensch geschrieben hat. ist 
geeignet, uns den Verfasser persönlich nahezubringen: durch die 
eigentümliche Sprache, die uns ihm gegenüberstellt, uns gewisser¬ 
maßen zum Adressaten macht, und durch die Intimität jedes mit 
dem Gedanken an nur einen oder wenige Leser verfaßten Schrift¬ 
stücks — die Intimität nicht der Mitteilung der privaten, persön¬ 
lichen Verhältnisse, sondern die Intimität der Form, der Sprache, 
des ganzen Seelenzustandes, in dem ein Brief geschrieben wird. 
Es ist der Alltagsmensch, der aus Briefen lebendig wird: oft be¬ 
leuchten Briefe, wie aus den: rein Persönlichen, einer höhern Er¬ 
scheinung gleich, das Allgemeine für Momente aufsteigt; Durch¬ 
brüche eines tiefer als in e i n e m Menschen und seinen Lebens¬ 
umständen wurzelnden Gefühls stehen zwischen trockenen Mit¬ 
teilungen. Das Unregelmäßige, Anregende. Ernüchternde und 
zum Widerspruch Reizende, aber auch das menschliche Anteilnahme
	        
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