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XII. Gesetz und Recht.
Wandel geregelt und jedem das Maß seiner Freiheit zugewiesen
wurde, damit er die anderen nicht in ihren Ansprüchen aus die gleiche
Freiheit beeinträchtigte. Und nicht nur mußte bestimmt werden, was
als Recht gelten sollte, sondern auch, wer es zu verwalten und dar¬
über zu wachen habe, daß es tticht übertreten würde.
Schon das Zusammenleben nomadischer Hirtenstämme ist un¬
denkbar ohne gewisse rechtliche Bestimmungen und ohne die Unter¬
ordnung der Menge unter ein gemeinsames Oberhaupt. Wieviel
weniger läßt sich eine aus so vielen und so verschiedenartigen Bestand¬
teilen bestehende Gemeinschaft denken, wie diejenige, in der wir leben,
ohne daß noch eine weit genauere Bestimmung dafür getroffen ist, daß
jedem das Seine werde: dem Käufer und Verkäufer, dem Gläubiger
und Schuldner, dem Herrn wie dem Diener, dem Untertanen wie dem
Fürsten usw. Ein solches streng geordnetes, wohl gegliedertes Ganze
aber, worin jedem seine Rechte und Pflichten angewiesen sind und
für die Vollziehung beider gesorgt wird, ist der Staat.
Mit diesem Worte haben wir die vollkommenste Form des gesell¬
schaftlichen Zusammenlebens bezeichnet. Wie der Ackerbau die Grund¬
lage für alle höhere Gesittung ist, so ist der Staat die vollendetste Aus¬
bildung derselben; alle Güter eines gebildeten Volkes finden in seinem
Schoße ihren Schutz und ihre Pflege.
Was sollte ans uns werden, wenn plötzlich alles das aufhörte,
was wir jetzt an staatlicher Fürsorge genießen; wenn sich außer unseren
nächsten Angehörigen niemand mehr um uns bekümmerte; wenn wir
Haus und Hof, Handel und Wandel und selbst unser Leben und
Sterben dem bloßen guten Willen der Menschen anheimstellen müßten;
wenn jeder sich selbst zu schützen hätte und uns keine Obrigkeit be¬
wachte! Wie schnell wären alle die Güter vernichtet, deren wir uns
jetzt erfreuen, wie rasch würden wir in jenen Zustand zurücksinken,
wo jeder allein für sich sorgt und nur das Recht des Stärkeren gilt!
Was würde aus allen den gemeinnützigen Einrichtungen werden, die
jetzt unser Leben fördern und uns Sicherheit oder doch, wenn das
Unglück einmal nicht zu verhüten ist, Hl^e bieten, und zwar nicht
nur gegen die Eingriffe der Menschen, wie Diebstahl, Mord usw.,'
sondern auch gegen zerstörende Naturgewalten, wie Feuers-, Wassers¬
und Hungersnot, verheerende Krankheiten usw. Es würde sich das
Wort Schillers erfüllen:
„Nichts Heiliges ist mehr, es lösen
sich alle Bande frommer Scheu;
der Gute räumt den Platz dem Bösen,
und alle Laster walten frei."
Und wenn wir etwa meinen wollten, dafür sei der Staat, den
sich überhaupt manche fälschlich nur als einen unbequemen Gehieter
und Steuerforderer denken, nicht notwendig, das Nämliche ließe sich
auch durch eine einfache Verabredung der Bürger untereinander er¬
reichen: so fragt euch nur, wie lange es mit dem guten Willen aller
einzelnen Mitglieder einer solchen Gesellschaft dauern würde, an der
jemand nur teilnähme wie etwa an einem Turnvereine oder Sänger-