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2. Der Verfasser dieses Aufsatzes besuchte am Nachmittage vor
dem Stapellauf bereits die Werft und das Schiff. Noch waren Hunderte
von Händen tätig, und aus dem Inneren des ungeheuern Schiffsleibes
erschollen die donnernden Hammerschläge. Am Bug erhob sich die
für Seine Majestät den Kaiser und für die geladenen Taufgäste be¬
stimmte Tauftribüne. Unter dem Bug des Schiffes unmittelbar vor
der Tribüne war eine große Anzahl Sandsäcke zwischen Schlitten und
Kiel des Dampfers eingekeilt. Am nächsten Morgen, am 4. Mai 1897,
bei herrlichem Wetter entwickelte sich von Stettin nach dem „Vulkan“
hinaus ein Leben, wie es die alte Ostseestadt noch niemals gesehen.
Galt es doch den Stapellauf des größten Schiffes der Gegenwart, einer
Ruhmestat deutschen Unternehmungsgeistes und deutscher Tüchtig¬
keit, welche durch die Anwesenheit Seiner Majestät des Kaisers
selbst ihre Weihe erhalten sollte. Gegen elf Uhr war der breite
Raum der Werft, waren alle umliegenden Straßen und das gegen¬
überliegende Oderufer mit einer nach vielen Tausenden zählenden
Menschenmenge dicht besetzt. Zehn Minuten vor zwölf Uhr nimmt
die Fahnenkompagnie an der Backbordseite des Dampfers ,,Kaiser
Wilhelm der Große“ Aufstellung, und Punkt zwölf Uhr naht das
Schiff, von welchem die Kaiserstandarte weht. Seine Majestät der
Kaiser schreitet die Fahnenkompagnie ab und begibt sich auf die
Tauftribüne. Um dreiviertel zwölf Uhr hat die Direktion des „Vulkan“
die Werkstätten für ihre fünftausend Arbeiter geschlossen, und von
allen Balken und Querstangen der das Schiff umgebenden Seitengerüste
schauen frohbewegte, rußgeschwärzte Arbeitergesichter auf den Lenker
der Geschicke des Vaterlandes, aber auch voll Stolz auf ihr Werk,
welches jetzt seinem Element übergeben werden soll. Nach der in
Dichterworten erklingenden Taufrede zerschellt die Flasche deutschen
Schaumweines am Bug des Riesenschiffes, es hat seinen Namen
— den des ersten Kaisers des geeinigten Deutschlands — erhalten.
Kommandorufe erschallen, noch einmal werden die Holzkeile ange¬
trieben; dann erglühen gegenüber der Tauftribüne zwei elektrische
Lampen, rot an Backbordseite, grün an Steuerbord: das Signal, daß
hinten und unten nach dem Wasser zu alles in Ordnung ist; jetzt ein
schriller Pfiff der Bootsmannspfeife des leitenden Ingenieurs, die
blitzenden Äxte senken sich in die unter dem Bug aufgestapelten
Sandsäcke, in hellen Strömen rinnt der weiße Sand daraus hervor,
der Bug und das Vorderteil des Schiffes drücken gewaltig nach unten,
Bewegung kommt in die ungeheure Eisenmasse; zuerst langsam, dann
immer schneller setzt sich der Riesenleib des Schiffes in Bewegung.