Full text: Lesebuch für Fortbildungsschulen

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hat ihm das Schncidersiegel ausgedrückt." Das wurde den guten Ehe¬ 
leuten, die Stutz hießen, so oft gesagt, daß sie am Ende wie aus 
Evangelium glaubten, ihr Jörgel müsse ein Schneider werden. Sie 
waren arm, konnten aber doch soviel davonbringen, daß sie das Lehrgeld 
erschwangen, und Jörgel wurde ein Schneider. Andere Leute meinten 
aber wieder, es sei doch schade um den guten Kopf des Jungen, der 
wohl zu mehr tauge als zum Schneider. 
Diese dachten aber nicht daran, daß auch ein Schneider, wenn er 
ein rechter ist und nicht bei dem Schnitte seiner Wanderzeit bleibt, 
sondern mit der Zeit fortschreitet, etwas werden kann. In dem Jörgel 
Stulz aber steckte so einer, denn der Junge hatte viel Verstand, hatte 
Schönheitssinn und Gewandtheit. Sein Meister lobte ihn ganz grau¬ 
sam, wie man dortherum sich ausdrückt; allein dies Lob galt nicht bloß 
seiner Gelehrigkeit, sondern auch seinem Gehorsam, seiner Gefälligkeit 
und seinen guten Sitten. Es zeigte sich auch da wieder, daß Redlich¬ 
keit und Gefälligkeit gegen jedermann ein Schlüssel ist, der nicht nur 
alle Thüren, sondern auch alle Herzen ausschließt. 
Als die Lehrzeit aus war, ist unser Stulzchen, dem der Sinn in 
die weite Welt stand, auf die Wanderschaft gegangen. Geld hatte er 
wenig mitgenommen, aber sehr gute Zeugnisse vom Meister und, was> 
mehr wert war, auch Frömmigkeit und guter Eltern reichen Segen. 
Von dem sagt die Schrift, er baue den Kindern Häuser, und bei meiner 
Treu! dem Jörgel Stulz hat er sie gebaut. 
Ter ist dann nach der Schweiz gewandert, hat überall gearbeitet 
und gelernt, war überall gern gesehen unb wert gehalten, und ist darauf 
nach Frankreich gegangen. In Paris hat er sich erst recht einen guten 
Geschmack verschafft. Da er sparsam war und die Kneipen- und Her¬ 
bergswirtschaft mied, sparte er sich schon ein schönes Stück Geld, schickte 
seinen lieben Eltern regelmäßig Unterstützungen und ließ keinen Armen 
ohne eine Gabe; denn er wußte selbst auch, wie das Hungcrbrot schmeckt. 
In Frankreich behagte ihm die Wirtschaft nicht. Er machte sich daher 
auf die Beine und ging nach England, das heißt, er ging ans Meer 
und dann fuhr er hinüber. Überall kann man geschickte Leute brauchen, 
absonderlich in London, wo man auf ein schönes Kleid etwas hält und 
auch nicht knickerig bezahlt. 
Durch seine Geschicklichkeit wurde er Geselle beim Hofschneider und 
darauf Obergeselle, nämlich der, welcher zuschneidet. Er war auch mittler¬ 
weile gewachsen und ein hübscher Mensch geworden, der sich nett kleidete 
und andere noch netter zu kleiden, besonders aber kleine Naturfehler 
herrlich zu verstecken verstand. Das zieht bei den vornehmen Leuten, 
die den Verdruß Haffen. 
Nach einigen Jahren starb sein Meister, der Hofschneider, und er
	        
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