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Kuß. Das Thier berührt später auch seinen Mund, sobald der Herr
ihm das Zeichen dazu macht, selbst wenn er ihm keinen Zucker darreicht.
Soll das Pferd auf Commando niesen lernen, so wirst ihm der
Abrichter mit einer besonderen Handbewegung etwas Schnupftabak in die
Nase. Er braucht nachher nur jene Bewegung zu machen, so niest das
Pferd auch ohne Schnupftabak.
Sticht der Herr seinen vierfüßigen Schüler mit einer Stecknadel
etwas hinter das Ohr, so schüttelt derselbe heftig mit dem Kopse. So¬
bald der Herr später dieselbe Stellung wieder einnimmt, meint das
Thier auch, den Stich wieder zu empfinden, und schüttelt. Manches
Pferd hat eben ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Was bei der öffentlichen
Vorstellung der Herr das Thier fragt, versteht jenes nicht; will er aber
eine verneinende Antwort daraus haben, so nimmt er jene bestimmte
Stellung ein und veranlaßt dadurch sein Thier zum Schütteln.
Ganz ähnlich geschieht es mit dem Klopfen und Hufscharren. Wird
ein Pferd gelinde auf die Krone eines Vorderschenkels geschlagen, so
scharrt es mit dem Fuße. Der Lehrmeister tritt nun vor das Thier,
spricht im fragendem Tone zu ihm und klopft es dabei auf jene Stelle.
So oft er klopft, wird das Pferd scharren. Soll das Pferd mit dem Schar¬
ren aufhören, so tritt der Mann zurück. Das Thier gewöhnt sich durch
häufige Wiederholung allmählich so daran, daß es jedesmal zu scharren
»anfängt, wenn sein Herr sich in bestimmter Weise fragend vor oder
neben dasselbe stellt; es scharrt dann so lange fort, bis er zurücktritt.
Das Pferd rechnet also alle jene Aufgaben nicht aus, die ihm gestellt
werden, sondern der Herr desselben thut es. Das Pferd klopft aber
genau nur so viele mal, als es der Herr haben will. H. Wagner.
18. Die Gemse.
Die Gemse bewohnt die höchsten Gebirge der Schweiz und Tirols.
Man trifft sie da oft in ganzen Nudeln an. Jedes Rudel hat eine
Vorgeiß, welche die andern anführt. Die Vorgeiß ist sehr wachsam;
bemerkt sie etwas Verdächtiges, so pfeift sie durch die Nase, und sogleich
ergreift das ganze Rudel die Flucht. Die Gemsen leben im Sommer
von Alpenpflanzen und von frischen Trieben der Alpenrosen, Erlen,
Weiden, Tannen und Fichten; im Herbste und Winter fressen sie Laub,
dürres Gras und mancherlei Moose. Die Gemse hat eine schlanke
Gestalt, und ihre Füße sind mehr zum Springen als zum Laufen ein¬
gerichtet. Sie springt daher auch mit großer Leichtigkeit und Geschwin¬
digkeit über die steilsten Felsen hinweg. Da die Gemsen ein sehr scharfes
Gesicht, einen feinen Geruch und ein leises Gehör haben, so sind sie
schwer zu jagen. Sobald sie das Geringste merken, eilen sie wie der
Blitz davon. Wenn daher ein Jäger Gemsen jagen will, so muß er sie
abschleichen. Er schleicht vorsichtig auf sie zu, kriecht auf Händen und
Füßen über Schnee und spitzige Steine, damit sie ihn nicht sehen sollen.
Bemerken sie ihn aber doch, so muß er wie todt aus dem Bauche liegen
bleiben. Endlich kriecht er auf glattem Eise weiter, zieht sein Hemd
über den Rock, thut die Schuhe herunter, läßt Bergstock, Kappe und