Full text: (Prosa) (Teil VII - IX in 1 Bande, [Schülerband])

von denen, die nach ihm gekommen sind, hat sie andächtiger belauscht, 
sinniger gedeutet als Rückert. Und besonders die stille, leidenlose Pflan¬ 
zenwelt ist ihm so vertraut, daß ihm Bilder und Gleichnisse aus ihr 
zahllos entgegensprießen, Gleichnisse, deren Sinn er doch öfters selbst 
ausspricht, deutet, wenigstens andeutet, seltener ahnen und erraten läßt. 
In seinem reichen Empfindungsleben und in der Welt von Bildern, die 
ihm, dies Leben auszudrücken, zu Gebote steht, liegt seine Bedeutung 
als Dichter. 
Dichter ist er zumal auch, wenn er überseht. Vielmehr, er übersetzt 
nicht, er dichtet, er schafft frei nach. Immer darauf bedacht, den Geist 
des Originals zu übertragen, in seine Schöpfung hinüberzutragen, wie 
Herder und Goethe, deren Werk fortzusetzen und im Sinne einer Welt¬ 
literatur zu erweitern, er berufen war, wie kein anderer. Denn er 
beherrschte, mit alleiniger Ausnahme etwa des Chinesischen, die Sprachen 
völlig, aus denen er übertrug. Seine großen Vorgänger waren oft 
auf vermittelnde Übersetzungen angewiesen und verließen sich auf ihr 
Sprachgefühl. Wenn sie frei übertrugen, so machten sie je zuweilen aus 
der Not eine Tugend. Rückert aber machte, wenn ich so sagen darf, aus 
seinem Reichtum eine Tugend, indem er ihn ganz der schaffenden Dichter¬ 
kraft in den Dienst gab. 
Diese Kraft, so lebendig, reich und ausgiebig, ist doch nicht eigent¬ 
lich Dichterenergie; zu den großen Schöpfungen des Dramatikers reicht 
sie nicht aus. Rückerts Phantasie ist nicht die Titanin, die er uns schildert: 
Phantasie, das ungeheure Riesenweib, 
Satz zu Berg, 
nicht die Riesin, die sich halben Leibes zum Himmel hebt, einen Stern 
faßt und ihn schwingt, daß er Funken stiebt; die mit Donnersturm den 
Mund auftut — sondern sie ähnelt mehr jener zarten Unsterblichen, von 
welcher Goethe singt, daß sie „rosenbekränzt, mit dem Lilienstengel Blu¬ 
mentäler betritt, Sommervögeln gebietet und leicht nährenden Tau mit 
Bienenlippen von Blüten saugt". Aber in diesem ihrem Reiche waltet 
sie oft mit unwiderstehlicher Anmut. Und ebenso mit spielender Leichtigkeit 
unser Dichter im Reich der Formen. Da ich auch hier es mir ver¬ 
sage, in die Ferne zu schweifen, und es aufgeben muß, nachzuweisen, 
wie Rückert südliche und östliche Kunstformen für unsere Sprache, die 
damals kaum zum Sonett biegsam und klangvoll genug schien, errungen 
hat — errungen, doch nicht im schweren Ringkampf, sondern wie in 
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