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Rückhalt in ein Land zu gehen, dessen Sprache man nicht versteht,
und ein junger Mann hat auch nicht die genügende Charakterfestigkeit,
um den sittlichen Gefahren mancherlei Art standzuhalten. Schon
aus diesem Grunde ist London vor Paris für den ersten Versuch zu
empfehlen. Hier sind die Kellnervereine in einer Weise entwickelt und
eingerichtet, daß sie gewissermaßen Elternstelle an den jungen Leuten
versehen. Der „Verein der Hotelangestellten Gens" hat sein Besitztum
Charlotte-Street 107, der „Deutsche Kellnerverein Berlin" in Clip-
stone-Street 36 und der „Deutsche Kellnerbund Leipzig" Charlotte-
Street 84, Fitzroy-Square W. Diese Vereine sind Schutz und Stütze
für ihre Mitglieder. In London ist der Jüngling außerdem nicht so
sehr sittlichen Gefahren ausgesetzt als in dem leichtlebigen Paris.
Getrosten Mutes, voll schöner Hoffnungen und guter Vorsätze
trat ich meine Reise an. Der Seefahrt verdanke ich reiche Genüsse.
Die Ankunft in London erfolgte auf Victoria-Station. Mein Gepäck
behielt ich scharf im Auge, damit mich fremde Liebhaber nicht etwa
erleichterten. Nachdem ich einem Kutscher das Klubhaus des Deutschen
Kellnerbundes als Ziel genannt hatte, langte ich nach schneller Fahrt
dort an. Der Geschäftsführer nahm mich freundlich auf und sorgte
für meine Unterkunft. Mit mehreren anwesenden Kollegen konnte ich
freundschaftlich verkehren und über die Verhältnisse der Riesenstadt
eingehend sprechen. Der Aufenthalt im Vereinshause war eine große
Wohltat für mich; in jeder Hinsicht war ich aufs beste versorgt und
beraten, und ich fühlte mich so wohlgeborgen wie im Vaterhause. Die
Stellenvermittlung wird im Hause besorgt. Es geht dabei redlich zu, und
man zahlt eine billige Vergütung, während man in den Vermittlungs¬
geschäften der Großstadt oft stark geplündert und ausgesogen wird.
Zum Glück brauchte ich nicht, wie viele andere, wochenlang auf
eine Stellung zu warten, sondern fand schon nach wenigen Tagen in
einem feineren Privathause als „Inäoor servant" einen Platz. Man
zieht eine solche Stelle der Beschäftigung in einem Hotel mit mehreren
deutschen Kellnern vor, da man in den Familien nur englisch sprechen
hört und darum beffere Gelegenheit zur Erlernung des Englischen hat.
Das ist für den Kellner die Hauptsache. Ein Ruheposten oder eine
angenehme Stellung ist ein solcher Platz freilich nicht. Man ist sehr
beschäftigt und muß Arbeiten verrichten, die man als Lehrling nicht
getan hat. Aber das schadet nichts. Wer Rosen pflücken will, macht
auch mit den Dornen Bekanntschaft. Nur der wird sich des Erfolges
freuen, der bei jeder Arbeit mutig und kräftig zugreift und sie in
zäher Ausdauer beendet. Neben freier Wäsche und Kleidung erhielt
ich monatlich 30 Schilling. Obschon man in dienender Stellung eine
hervorragende Rücksichtnahme nicht erwarten kann, war doch meine
Behandlung im allgemeinen durchaus befriedigend. Die freien
Stunden benutzte ich zum fleißigen Lernen der englischen Grammatik
und zu Übungen in der schriftlichen Darstellung; denn ich wollte die
englische Sprache möglichst gründlich erlernen. Als ich den ganzen
Betrieb des Hauses genügend kennen gelernt hatte, arbeitete ich einige
Zeit in einem „Boardinghaus", in dem ich mich recht gut stand. Jetzt
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