Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

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Zwei Zeitbilder aus der Weichselniederung. 
viele mit Flittern und künstlichen Blumen aus buntem Papier geschmückt. 
Buch die Bürger beeilten sich, auf dem Markt und in den breiten Straßen 
Bänke aufzustellen und die Maren auszulegen. Bus allen Straßen zog das 
Landvolk der Stadt zu: die Bauern der Umgegend in ihren Korbwagen, die 
Junker mit ihren Knechten auf behenden Rossen. Buch die Polen kamen 
über die lange Brücke in lodigen Schafspelzen auf kleinen, struppigen Pferden, 
viele lagerten außerhalb der Mauern am Ufer wie ein Kriegshause bei 
rauchenden Feuern, und sie luden von ihren Karren ab, was sie zum Tausch 
gegen städtische Maren angefahren hatten: Honig, Machs und Felle. 
Zunächst nach den Glocken erhob der ehrbare Rat seine mahnende 
Stimme. Der erste Diener, gefolgt von zwei helebardieren, schritt vom 
Rathaus über den Markt und rief an den Ecken den strengen Frieden der 
Stadt aus: „Der Rat gebietet euch von Gottes wegen und von der Stadt 
wegen: verbricht jemand mit Morten, so gehe es ihm an seine habe; ver¬ 
bricht er mit Merken, so gehe es ihm an seinen hals!" Gleich darauf 
erklangen Trommeln und pfeifen aus allen Stadtvierteln; Frauen und 
Mädchen traten in die Haustüren und blickten neugierig aus den Fenstern; 
denn die viertel trugen heut nach altem Brauch ihre Fahnen vor das 
Rathaus, damit einer der Herren Bürgermeister das Fahnentuch mustere 
und den Trägern von Rats wegen eine „Verehrung" zuteile. 
Unter den Leuten, welche den Fahnenzug begleiteten, ging ein 
Fremder; an dem langen pelzrock, der Mütze mit einer) Reiherfeder und 
dem krummen Säbel erkannten die Bürger einen polnischen Gast. Dieser 
wandte sich zu seinem Begleiter, dem Schreiber des Rats, und sagte spöttisch: 
„Eure Stadt hat stolze Bürgermeister und reiche Kaufherren, denen es müh¬ 
sam wird, das Haupt zu neigen." „Ja, sie sind nicht weniger stolz auf 
ihr Geld als auf ihr Mappen," lautete die Bntwort, „fragt nur Euren 
Großkanzler; er kennt sicher den preis der Goldstoffe, welche in Thorner 
Kaufhäusern zu finden sind." „Ihr sagt recht, Herr Stadtschreiber, daß 
unser Geld die Bürger von Thorn stolz macht," versetzte der Pole lachend. 
„Mir Edelleute in unsern Palästen trösten uns damit, daß auch ein fester 
Kasten springt, wenn man mit der Bxt daraus schlägt." „Laßt eure Edel¬ 
leute doch zuerst dafür sorgen, daß ihre „Paläste" ein festeres Dach erhalten 
als euer Stroh. Mer die Kisten der Thorner begehrt, mag sich selbst vor 
den Brandkugeln hüten, welche unsere Bürger in die Raubnester der Edel¬ 
leute schießen," entgegnete der Stadschreiber. „Mir sind gute Brüder," 
beruhigte der Pole „und Federn im Schwanz desselben Bdlers." 
Bm Kirchhof von St. Johannes hatte hannus, der Buchführer, seinen 
Tisch aufgeschlagen; einige gebundene Bücher lagen darauf und viele Büchlein, 
wie sie das Volk gern kaufte: Kalender und prognostica, in denen aus 
dem Stand der Gestirne die Fruchtbarkeit des Jahres und das Schicksal 
der Könige prophezeit wurden. „Rühre mit deinen geteerten Fingern nicht 
an, was du doch nicht kaufst!" ries hannus, als ein Bäuerlein neugierig 
nach einem Blatte griff, auf welchem Sonne und Mond freundlich auf ein 
Totengerippe mit Sense herabsahen. „Es ist etwas Neues gekommen von 
Straßburg, Meister Zchwertfeger, über die Kunst, Eisen zu Härten," empfahl 
er, ein Büchlein in die höhe haltend, „die besten Rezepte und Geheimnisse 
eures Handwerkes werden darin offenbart." Mer später in die Nähe kam, 
wunderte sich über die ansehnlichen Männer, welche den Tisch umstanden. 
Mie in geheimem Einverständnis winkte der Buchführer dem einen und
	        
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