Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

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Das neue bürgerliche Recht. 
und im Jahre 1863 schuf das Königreich Sachsen für sich ein beson 
deres ,,Bürgerliches Gesetzbuch“. 
Dieses Wirrsal rechtlicher Verhältnisse wirkte nach mancher 
Seite hin sehr hinderlich. Ein Arzt, der von Hessen nach Pommern 
zog, wurde von einem hessischen Handwerker, der für ihn gearbeitet 
hatte, bei dem pommerschen Gerichte verklagt, weil er seine Ver¬ 
pflichtungen nicht erfüllt habe. In dem hessischen Orte galt Katzen- 
elnbogener Landrecht, und erst wenn dieses keine Vorschrift für 
diesen Fall enthielt, trat das gemeine Recht in Kraft. Demnach 
mußte sich der pommersche Richter vom Inhalte des Katzeneln- 
bogener Landrechts, das er natürlich nicht zur Hand hatte, Kenntnis 
verschaffen, um den Rechtsstreit richtig zu entscheiden. 
Die wichtige Frage, welche Rechte der Mann am Vermögen 
seiner Frau hat — das sogenannte eheliche Güterrecht — war in 
Deutschland auf mehr als hundert verschiedene Arten geregelt. Ein 
Ehepaar hatte z. B. zuerst in einem kleinen Orte Westfalens ge¬ 
wohnt; das dortige Güterrecht blieb deshalb für die Ehe fortan in 
Geltung; die Leute zogen nach Schlesien, wo der Mann in Konkurs 
geriet. Um sagen zu können, ob und inwieweit seine Gläubiger 
sich an das Vermögen der Frau halten könnten, mußte man das 
Güterrecht des ersten westfälischen Wohnortes ermitteln. — Ein Ham¬ 
burger schloß auf der Leipziger Messe mit einem Berliner ein Ge¬ 
schäft ab, wonach er eine Ware nach Köln zu liefern hatte; dort 
sollte weiter darüber verfügt werden. Es kam über die Beschaffen¬ 
heit der Ware zum Prozeß. Welches Recht war anzuwenden? Ge¬ 
meines (Hamburg), sächsisches (Leipzig), preußisches Landrecht (Berlin) 
oder französisches (Köln)? 
3. Solcher Verworrenheit und Unklarheit hat endlich das 
„Bürgerliche Gesetzbuch“ vom Jahre 1896 ein Ende gemacht. 
Schon die nationale Begeisterung der Befreiungskriege weckte den 
Wunsch nach einem einheitlichen deutschen Gesetzbuche; aber dazu 
war die Zeit noch nicht gekommen; denn nachdem das heilige 
römische Reich deutscher Nation in Trümmer gesunken war, schlossen 
sich die deutschen Länder bloß zu dem lockeren Verbände des 
„Deutschen Bundes“ zusammen. Nur für das Handels- und Wechsel¬ 
recht wurde Rechtsgleichheit erreicht. Die Schöpfung eines ge¬ 
meinsamen bürgerlichen Rechtes konnte erst gelingen, nachdem ein 
gemeinsamer, siegreicher Kampf die deutschen Stämme politisch 
geeinigt hatte. Schon im Jahre 1874 ging eine vom Bundesrate 
gewählte Kommission von 11 Rechtsgelehrten an die Arbeit, und 
im Jahre 1888 wurde der erste Entwurf eines Gesetzbuches ver¬ 
öffentlicht. Aber er fand eine überwiegend ungünstige Beurteilung, 
und bedeutende Rechtskundige tadelten ihn scharf und machten 
Verbesserungsvorschläge. Im Jahre 1890 überwies der Bundesrat 
den Entwurf zur Umarbeitung an eine neue Kommission von 9 stän¬ 
digen und 13 nichtständigen Mitgliedern. Unter letzteren befanden 
sich auch Vertreter der Landwirtschaft und Industrie. Der Entwurf 
wurde gründlich umgestaltet, die Vorschriften mehr einer deutschen, 
volkstümlichen Auffassung angepaßt und auch die Sprache sehr 
verbessert. Gegen Ende des Jahres 1895 war der zweite Entwurf
	        
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