Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

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Tausende und aber Tausende von fleißigen Händen nahm das aufblühende 
Gewerbe in seinen Dienst. Die Löhne stiegen fort und fort und waren häufig 
mehr als auskömmlich. Mancher verständige Arbeiter nahm die Gunst der 
Verhältnisse wahr, legte von seinem Verdienst zurück und ersparte sich für 
schlechtere Zeiten eine hübsche Summe oder erwarb auch wohl ein eigenes 
Hänschen, das ihm und den Seinen ein behagliches Heim bot. Viele aber 
lebten in den Tag hinein, dachten nicht ans Sparen und verbrauchten ihren 
schönen Verdienst oft genug für überflüssige Dinge. Vielfach führte auch die 
Anspannung aller Kräfte zu einer ungesunden Übertreibung. In zahlreichen 
Fabriken und Werkstätten wurde Sonntags kaum weniger gearbeitet als an 
Wochentagen; Frauen und Kinder mußten fast ebenso wie die erwachsenen 
Männer Hand anlegen, um mit zu verdienen. 
Dem Aufblühen der Industrie folgte bald (i. I. 1873) ein schwerer 
Rückschlag, der in der Erinnerung der Zeitgenossen unter dem Namen „der 
große Krach" fortlebt (s. Nr. 170). Die in übertriebener Menge hergestellten 
Waren fanden schließlich keinen Absatz mehr; Handel und Wandel stockten, 
zahlreiche Fabriken gingen ein, und Tausende von Arbeitern wurden brotlos 
und konnten nur zu bedeutend geringeren Löhnen neue Arbeit finden. 
Was war nun das Schicksal derer, die nicht gespart hatten oder nicht 
hatten sparen können, wenn sie alt und arbeitsunfähig wurden, oder wenn sie 
durch Krankheit oder einen Unfall, z. B. einen Sturz vom Gerüst, eine 
Quetschung durch die Maschine, ans ihrer Thätigkeit herausgerissen wurden? 
Fand sich kein hilfsbereiter Verwandter oder kein wohlmeinender Arbeitgeber, 
der sich ihrer annahm (f. Nr. 172), so fielen sie der öffentlichen Armenpflege 
anheim, und dann mußte wohl ein Arbeiter, der wenige Wochen zuvor für 
sich und die Seinen in rüstiger Thätigkeit das Brot verdient und sein gutes 
Auskommen gehabt hatte, bescheiden bitten und dankbar sein, daß ihm die 
Gemeindebehörde gerade so viel gab, daß er und seine Familie nicht Hunger 
litten. Dazu kam noch, daß jeder Staatsbürger, der Armennnterstützung 
erhält, seine politischen Rechte verliert, also nicht mehr zum Reichstage, zum 
Abgeordnetenhanse und zur Gemeindevertretung wählen darf. 
Wohl versuchte die Reichsregierung diese Übelstünde zu mildern, indem 
sie in dem sogenannten Haftpflichtgesetze vom 7. Juni 1871 vorschrieb, 
daß Unternehmer von Bergwerken, Steinbrüchen, Gräbereien, Eisenbahnen und 
Fabriken zum Schadenersatz verpflichtet sein sollten, sobald durch ihr oder 
ihrer Beauftragten Verschulden ein Mensch getötet oder verletzt würde. Allein 
dieses Gesetz gab Anlaß zu langwierigen Prozessen und war schließlich ohne 
Nutzen für die Arbeiter, wenn der Unternehmer nicht die Mittel besaß, dem 
verunglückten Arbeiter die Schadenersatzsumme zu zahlen. Auch die Versuche 
einsichtiger Arbeiter, sich durch Gründung von Kranken- und Hilfskassen für 
die Zeiten der Not und Krankheit zu sichern, erreichten für die Allgemeinheit 
nur wenig, da ihnen nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Arbeiterschaft 
beitrat. 
2. Da nahm die Regierung Kaiser Wilhelms I. und seines großen 
Kanzlers die Aufgabe in Angriff, mit Maßregeln der Gesetzgebung für das 
Wohl der gewerblichen Arbeiter und ihrer Familien zu sorgen. Es war am 
17. November 1881, als der große Kaiser durch seine Botschaft an den 
Reichstag die deutsche Volksvertretung feierlich ltnb eindrucksvoll zur Mitarbeit 
an dem großen Werke aufrief, an das sich vor ihm noch kein Herrscher und 
kein Volk gewagt hatte. Dieser Tag ist wert, dem Gedächtnis fest eingeprägt
	        
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