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Die bisher berührten Fälle sind ausschließlich solche, bei
denen die Schädigung des Handwerks in den Absatz- und Bedarfs¬
verhältnissen, nicht aber in der fortgeschrittenen Kunstfertigkeit
oder in der billigeren Erzeugung ihren Grund hatte. Nun wäre
noch der ernste Kampf des Kleingewerbes mit dem Großbetriebe
kurz zu betrachten. Solange die Fabriken nur einzelne Teile eines
Gegenstandes herstellten oder einen Teil der Fertigstellung ihrer
Erzeugnisse dem selbständigen Handwerker überlassen mußten,
waren die Verhältnisse erträglich, in mancher Hinsicht sogar vor¬
teilhaft. Die Schuhmacher haben z. B. die Schäftefabrikation nicht
ungerne gesehen, sie dachten am Anfange nicht daran, daß der
Großbetrieb sich auch an Kinder- und Hausschuhe, an Herren-
und Damenschuhe und an Stiefel aller Art heranwagen werde.
Es kam aber so und in neuester Zeit werden in den Städten so¬
gar die Ausbesserungen durch die Fabrik besorgt und mancher
bisher selbständige Meister muß sich in den Dienst des Gro߬
kapitals begeben, um nicht zu hungern. Ähnlich wie beim Schuster¬
gewerbe ist es in verschiedenen anderen Berufen.
Trotz der trüben Aussichten wird das deutsche Handwerk
die gegenwärtige mißliche Lage überstehen, wenn es sich bewußt
bleibt, daß die Massenerzeugnisse der Fabriken in Bezug auf
Schönheit und Güte nie mit gediegener Handarbeit verglichen
werden können, und wenn es sich durch kaufmännische Schulung
in den Stand setzt, nicht nur gediegene Ware um mäßigen Preis
zu liefern sondern auch den Vertrieb seiner Erzeugnisse selbst
zu übernehmen.
Anton Mistler.
107. Oie deutsche Hausindustrie.
?>ie Hausindustrie ist die jüngere Schwester des Handwerks. Ihr
^ Wesen besteht darin, daß Waren, deren Vertrieb im großen erfolgt,
in zerstreuten Kleinbetrieben hergestellt werden. So beschäftigt z. B.
mancher Kaufmann in einer Stadt Dutzende von Schneidern, indem er
ihnen die zugeschnittenen Stoffe zur Bearbeitung in ihrer Wohnung
überläßt und die fertigen Kleider in Empfang nimmt.
Die Entstehung der deutschen Hausindustrie ist in das 16. Jahr¬
hundert zu setzen. Das Handwerk erzeugte schon damals oft mehr
Waren als am Platze selbst und in dessen nächster Umgebung abgesetzt
werden konnten. Da übernahmen die Besucher entfernter Märkte die
überschüssigen Erzeugnisse um sie im Aufträge des betreffenden Hand-