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43. Selbständigkeit.
gibt es leider viele Menschen, die meinen, dadurch, daß man ein
Taschengeld nicht lnehr von andern bekommt und äußerlich auf
eigenen Füßen steht, sei man auch wirklich schon unabhängig von
den andern. Nein, die rechte Selbständigkeit ist etwas Inneres
und hat mit der äußeren Freiheit eigentlich gar nichts zu tun. Es
kann ein Mensch sich in dienender und abhängiger Stellung befinden
und doch ein ganz selbständiger Mensch sein; ebenso kann jemand
äußerlich ganz auf eigenen Füßen stehen und mit eigenen Pferden
fahren und doch ganz der Sklave der andern sein. Selbständigsein
bedeutet, daß malt nicht gegen sein Gewissen handelt und daß alles,
was man für andre tut und mit andern tut, nur getan wird aus
eigener vernünftiger Einsicht in das, was nötig ist, aber nicht aus
Eitelkeit ilnd Ruhmsucht oder aus Angst vor dem Lachen oder aus
Furcht vor Schaden und Strafe.
Welchen merkwürdigen Begriff manche Kliaben von der Selb¬
ständigkeit haben, das kann man oft beobachten. Da meinen sie:
die erste Zigarre rauchen oder das erste Glas Bier in der Wirtschaft
trinken, das sei der Anfang der Selbständigkeit. Was ist schwerer,
wenn man so ein junger Mann ist: eine Zigarre zu rauchen oder
keine Zigarre zu rauchell? Sicher das letztere, eben weil man aus¬
gelacht wird und weil die andern es tun und weil so eine Ansicht
herumgeht, es gehöre zum Erwachsensein, daß man aus dem Munde
qualmt. Darum ist es gerade ein Zeichen von Selbständigkeit so
etwas nicht mitzumachen ilnd trotz alles Hohnes und Spottes auch
ail keiner Trinkerei teilzunehmeli. Wer das fertig bringt, von dem
kann mail sagen: er macht sich selbständig, während die meisteil
ihre Selbständigkeit damit feiern und zeigen wollen, daß sie alberne
Moden mitmachen, die ihnen oft auch noch im Innersten zuwider
sind und töricht vorkommen; aber sie wagen es nicht allein zu steheu
und nennen das dann „Männlichkeit". Sie fürchten sich, man
könnte sie Muttersöhncheil rufen; aber sie bedenken nicht, daß es
iveit besser ist der treue Sohn einer liebevollen Mutter zu sein
als das gehorsame Söhnchen einer ganzen Schar von qualmenden
lind biertrinkenden Hansnarren.
Wenn ihr euch im Leben umseht, dann werdet ihr überhaupt
entdecken, wie wenig wirkliche tapfere Selbständigkeit es gibt.
Biele Menschen jinb gern ehrlich, wahrhaftig und liebenswürdig,
solange die andern es auch sind — aber sobald die andern das Gegen¬
teil tun, da denken sie: wenn ich allein recht tue, da werde ich doch
den kürzeren ziehen und zum Schluß nur noch den Spott haben.
Solche Menschen haben kein selbständiges Gewissen — sie machen
es voll den andern abhängig, ob sie sich selber treu bleiben wollen
oder nicht. Leider gibt es genug Menschen, die so unselbständig