Full text: Deutsches Lesebuch für kaufmännische Fortbildungsschulen und verwandte Anstalten

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18. Liebet eure Feinde! 
kam von dem andern Freunde eiligst ein Bote mit einem Schreiben an, worin 
ihn derselbe dringend bat ihm umgehend so viel Geld zu schicken, als er nur 
irgend entbehren könnte. „Der ist in größerer Verlegenheit als ich", dachte 
der Treuherzige und ohne sich lange zu besinnen nahm er den noch ver¬ 
siegelten Beutel und schickte ihn dem Freunde. 
Aber schon am späten Abend des folgenden Tages trat jener erste 
Freund zu ihm herein, von dem er selber das Geld geliehen hatte, und über¬ 
reichte ihm den nämlichen Beutel, von dem er glaubte, daß ihn der andere 
Freund kaum empfangen habe. „Du siehst," sprach der späte Gast, „warum 
ich gekommen bin; der Beutel ist in demselben versiegelten Zustande, worin 
ich ihn dir geschickt habe, wieder an mich zurückgekommen. Ich habe diesen 
wunderbaren Verlauf nicht begreifen können und Mißte zu dir eilen um 
Aufschluß zu erhalten; ich bitte dich, sage mir aufrichtig, was du mit dem 
Beutel angefangen hast." — „Zürne mir nicht!" antwortete der Gefragte; 
„ich hatte den Beutel noch nicht erbrochen, als unser beiderseitiger Freund 
mich durch einen Boten sehr dringend um Geld bat." — „O," unterbrach 
ihn freudig der andere, „nun ist alles klar! Ich hatte dir meine ganze Bar¬ 
schaft geschickt und schrieb, um nicht selber in Verlegenheit zu kommen, 
sogleich an unsern Freund, daß er mir einiges Geld leihen möge, wenn er 
es recht gut entbehren könne. Du siehst, daß er selber keines vorrätig gehabt, 
und weißt aus seiner Bitte, wie treu und eilig er gesorgt hat. Nimm das 
Geld und gebrauche es; denn du hattest es ja doch am nötigsten. Und wie 
können wir in große Not kommen, da wir so zusammenhalten! Morgen aber 
in aller Frühe wollen wir aufbrechen und zu unserem gemeinsamen Freund 
eilen!" Bones Lesebuch. 
18. Liebet eure Jeinde! 
In einem Walde des westlichen Rußlands lebte ein wackerer Förster 
mit seinem jungen Weibe, zwei holden Kindern und einigen Jägerburschen in 
glücklicher Abgeschiedenheit. Auch zu ihnen war schon die Kunde von den 
traurigen Verheerungen gekommen, welche die Cholera in den östlichen Teilen 
des Landes anrichtete und wie sie immer nach Westen vordränge. Schon 
hatte deshalb der Förster in der nächsten Stadt sich Verhaltungsmaßregeln 
geben lassen, auch einige Arzneien eingekauft, als eines Nachmittags ein 
Jägerbursche die Botschaft bringt, daß in dem nächsten Dorfe die Cholera 
in ihrer ganzen Furchtbarkeit ausgebrochen und bereits eine Menge Bewohner 
der Krankheit erlegen sei. Schnell beschließt nun der kleine Familienrat, jede 
Verbindung mit dem angesteckten Dorf aufs strengste zu vermeiden und aus 
die Annäherung jedes Fremden ein wachsames Auge zu haben. So kommt 
der Abend. 
Die Mutter bettet ihre Kleinen zur nächtlichen Ruhe und rückt sich einen 
Sessel an die Seite des Gatten, um mit ihm noch manche häusliche An¬ 
gelegenheit zu besprechen. Da schlagen die Hunde an und der eintretende 
Jäger meldet: „Draußen ist der Müller vom benachbarten Dorfe; er flieht
	        
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