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29. Nicht der Schule, sondern dem Leben.
ihres Mannes in großer Armut lebe und nun dem Verhungern nahe
sei, da sie alt und schwach sei und säst nichts mehr verdienen könne.
Dabei rannen ihr die Tränen über die welken Backen. Der Kaufmann
sah ihr in die ehrlichen Augen, tröstete sie und versprach für sie zu
sorgen. Zugleich iibergab er ihr eine Summe Geldes und schrieb mit
derselben Feder, die er vorhin in seiner Sparsamkeit von: Boden auf¬
gehoben hatte, einen Schein, nach welchem ihr jeden Monat in seiner
Schreibstube eine bestimmte Summe ausbezahlt werden sollte.
Beschämt schaute der eben getadelte junge Mann der glücklichen
armen Frau nach und gelobte sich in dieser Stunde, dem Beispiel seines
Herrn zu folgen. Böhm.
29. Nicht der Schute, sondern dem Leben.
Da das Leben nicht nur Kenntnisse und Gedanken sondern auch Willen,
Triebe, Taten braucht und hierin vor allem das Leben besteht, so wendet sich
der Spruch: „Nicht der Schule, sondern dem Leben" zu lernen, vorzüglich
auf Bildung des Herzens und des Charakters. Was hälfe es, tausend Kennt¬
nisse und keinen Willen, keinen Geschmack, keine Lust und keinen Trieb zu
leben, honett und rechtschaffen zu leben, haben? Im Willen leben wir; das
Herz muß uns verdammen oder trösten, stärken oder niederschlagen, lohnen
oder strafen; nicht auf Kenntnisse allein, sondern auf Charakter und Triebe,
auf die menschliche Brust ist die Wirksamkeit und der Wert, das Glück oder
Unglück unseres Lebens gebaut. Leben lernen heißt also, seinen Neigungen
eine gute Richtung geben, seine Grundsätze reinigen, befestigen, stärken, seine
Vorsätze läutern und tapfer begründen, nicht mit dem Kopf allein, sondern
auch mit dem Herzen existieren, gegen Eltern, Freunde, Lehrer, Mitschüler,
Bekannte, Fremde, offen und freundlich sein, sich Sitten erwerben, anständige,
frohe Sitten, die liebenswert machen vor Gott und den Menschen. Leben
lernen heißt: die Stunden des Tages wohl einteilen, sich Ordnung im Ge¬
schäft geben und sie mit strenger Munterkeit erhalten, den Ergötzlichsten,
dem Schlaf, der Trägheit nicht mehr Zeit einräumen, als ihnen gebührt;
sich Vorschriften machen, wodurch man seine Schwäche überwindet, seine
eigentümliche Schwäche, die niemand besser als wir selbst kennen, die zu über¬
winden uns am schwersten wird und welche die Eigenliebe so gern in Schutz
nimmt, bestehe diese, worin sie wolle, sei es Hang zu Stolz, zu törichter
Einbildung von sich selbst, an der so viele junge Leute unseres Zeitalters
krank liegen, mithin zur Geringschätzung und Verachtung anderer, oder Neigung
zu Haß, zu Zorn, zu Menschenfeindschaft oder zu Verzagtheit, zu Kleinmut,
am meisten zu Üppigkeit, zu Wollust, Trägheit, zu Tändelei. — Durch all
diese Neigungen, wenn sie überhandnehmen, verliert, vertändelt, entnervt,
vergällt der Jüngling sein Leben und schafft sich keine andere Aussicht, als
sich und andern zur Last zu werden, das Leben einst selbst als eine Bürde