Full text: Deutsches Lesebuch für kaufmännische Fortbildungsschulen und verwandte Anstalten

33. Wie ein alter Meister über Höflichkeit dachte. 
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schwingen. Auch in dieser angesehenen Stellung blieb der Kirchensürst 
bescheiden und demütig, erinnerte sich gern an seine früheren ärmlichen 
Verhältnisse und ließ auch seine armen Eltern in seinem Palaste wohnen. 
Unter den Prunkgeräten des erzbischöflichen Palastes war ein ein¬ 
faches Küstlein; in demselben stand ein irdener, unscheinbarer Topf, der 
dllrchaus nicht zur Umgebung paßte. Hierüber befragt, erklärte der 
Bischof: „Mit diesem Topf habe ich mir gar manches Jahr als armes 
Studentlein mein Mittagsmahl bei gutherzigetr Leuten geholt; ich halte 
ihn deshalb hoch in Ehren. Er erinnert mich täglich an meine frühere 
Armut, an meine Wohltäter und an die Gnade des lieben Gottes, der 
mich aus Niedrigkeit zu solch hoher Stellung emporgehoben hat." So 
sprach der Erzbischof und bekundete damit eine wahrhaft christliche Demut 
und Bescheidenheit. L°ßl, 
33. Wie ein alter Meister über Köftichkeit dachte. 
Ich habe einmal ein Sprüchlein gelesen, das lautet: „Mit dem Hut in 
der Hand kommt man durchs ganze Land." Das gab mir gar vielen Stoff 
zum Denken. 
Wahre Höflichkeit und Bescheidenheit sind Zwillinge; sie lassen sich nicht 
trennen. Warum haben denn wir Alten die Höflichkeit an jungen Leuten so 
gern? Es ist wahrhaftig nicht Verdruß über verletzte, dem Alter schuldige Ehr¬ 
erbietung, wenn uns Pas unhöfliche Wesen mancher Jünglinge unangenehm 
berührt; es ist die Überzeugung, daß so ein junger Mensch auf ganz ver¬ 
kehrtem Weg ist, der ihn, wenn nicht ins Verderben, so doch weit ab von 
seinem Lebensweg führen muß. Solche, die mit dem Kopfe durch die Wand 
rennen wollen, werden bald spüren, daß die Wand härter ist als ihr Kopf; 
sie werden sich diesen entweder ganz einrennen oder doch die Hörner abstoßen. 
Beides macht Schaden. 
Die allergewöhnlichste Höflichkeit kann sich jeder, auch im niedrigsten 
Stand, aneignen oder angewöhnen; er darf nur achtgeben, wie es gebildete 
Leute machen, die z. B. kein fremdes Zimmer betreten ohne erst anzuklopfen, 
nicht mit der Pfeife oder Zigarre im Munde jemand besuchen, nicht unflätig 
in die Stube spucken, nicht beim Eintreten die Mütze oder den Hut auf¬ 
behalten u. s. w. Für die wohltuendste Höflichkeit gegen groß und klein 
halte ich das schnelle Begreifen und feine Erraten, wie wir jemand gefällig 
sein können, ohne daß er uns daruni bittet. In diesem Sinne kann auch 
ein sonst rauher, derber Mann recht höflich sein. Ein Beispiel wird das 
verdeutlichen. In einer Nachbarstadt wurde einmal ein Kirchenkonzert ab¬ 
gehalten, dem ich auch beiwohnte; um einen Platz zu bekommen ging ich 
zeitig dorthin. Die Kirche füllte sich bald so an,' daß ein guter Platz nicht 
mehr zu haben war; endlich gab es gar keinen Sitzplatz mehr. Eine Menge 
junger Herrchen sah mit Neid auf mich, ja einer bot mir eine Mark für 
meinen Sitz. Ich war aber ermüdet vom langen Weg, hielt für meine alten 
Glieder das Sitzen für zuträglicher als das Stehen und lehnte das Angebot 
kurz ab. Jetzt trat eine Frau in mittleren Jahren ein. Betrübt sah sie sich 
um, kein Plätzchen war mehr zu finden. Ich kannte sie nicht, dachte aber in 
meinem Herzen: „Dieser Mutter — sie hatte ein Mädchen bei sich — wird 
es ein Gefallen sein, wenn sie sich setzen kann." Freudig nahm sie den
	        
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