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fast ganz Judäa. Nur die Hauptstadt und einige sehr feste Plätze wider¬
standen noch.
Als nun Titus nach seines Vaters Abgänge im Jahr 70 n. Chr. Je¬
rusalem umzingelte, war gerade zum Paschafeste eine ungeheure Menschen¬
menge innerhalb der Mauern der Stadt zusammengedrängt, und Verwirrung
und Elend erreichten bald den höchsten Grad. Drei Parteien machten sich
den Besitz der Stadt und des Tempels streitig. Im Heiligthume floß Blut
in Strömen, man machte Hohepriester und Beamte^ aus der Hefe des Volks
und fraß sich, nach einem Ausdrucke des jüdischen Geschichtschreibers Josephus,
gegenseitig wie wilde Bestien auf. Titus, der nach Einnahme der äußern
und der zweiten Mauer an der Eroberung der festen Stadt durch Waffen¬
gewalt verzweifelte, bot den Belagerten Verzeihung an, aber umsonst. Desto
mehr Erfolg erwartete er von der Hungersnoth und den Seuchen, die jetzt
gräßlich zu wüthen anfingen. Noch einmal kam in diesen letzten Zeiten eine
Maria vor, aber eine, — die ihren eigenen Sohn schlachtete, kochte und
zur Hälfte aufaß. Noch einmal kam ein Jesus vor, ein Sohn des Ana¬
nus, aber einer, der wie ein Rasender mit dem Weheruf über Jerusalem
und zuletzt über sich selbst herumlief, bis er durch einen schweren Stein von
einer römischen Wurfmaschine getödtet wurde. Noch einmal kamen, gleichsam
als Spottbilder auf die heiligen Apostel, welche das Volk verachtet hatte,
die Namen Johannes und Simon vor. So hießen die Häupter der
fanatischen Parteien, welche Jedem den Tod droheten, der zu friedlicher
Ucbergabe rathen wollte. Ueber eine halbe Million Menschen sollen durch
Hunger und Seuchen umgekommen sein. Was sich durch die Flucht zu
retten suchte, ward ergriffen, verstümmelt, gekreuzigt.
Selbst nach dem Fall der Burg Antonia dachten die durch die äußerste
Noth vereinigten Parteiführer, Simon und Johannes, an keine Uebergabe.
Der Verzweiflungsmuth und die trotzige Todesverachtung der Zeloten stei¬
gerte sich durch Greuel und Verbrechen zum Wahnsinn. Bald hieß es, ein
jüdisches Ersatzheer aus Babylon eile heran, bald der Messias müsse er¬
scheinen und Gott, den sie doch schon längst verworfen hatten, müsse sie
in seinem Heiligthume schützen. Aber nun drang Gottes Gericht auch heran
bis zu der heiligen Stätte, und am 10. August 70 nach der Geburt unsers
Herrn und Heilandes, an demselben Jahrestage, an welchem einst Nebu-
cadnezar auch den ersten Tempel verbrannt hatte, wurde bei einem Haupt¬
sturme auch der Tempel eingenommen. So sehr auch der römische Feldherr
das prächtige Gebäude zu erhalten wünschte, so gerieth es doch durch die
Brandfackel eines Soldaten in Flammen und wurde ganz ein Raub dersel¬
ben. Im September desselben Jahres ging auch die obere Stadt an die
Römer über. Darauf ließ Titus alle Gebäude, die noch standen, der Erde
gleich machen. So ging das Wort des Herrn in Erfüllung: „Es wird kein
Stein auf dem andern bleiben! “
Während der Belagerung und der Eroberung der Stadt Zkamen mehr
als eine Million Juden durch Hunger, Seuchen und das Schwert um,
97,000 Gefangene wurden als Sclaven verkauft oder zu blutigen Fechter¬
spielen bestimmt. Bei dem Triumphzuge, welchen Titus zu Rom hielt, wur¬
den der Schaubrottisch, der Leuchter und ein Gesetzbuch zur Schau getragen,
auch Simon, der aus einer unterirdischen Höhle lebendig hervorgezogen wor¬
den war, wurde mit im Triuniphe aufgeführt und dann getödtet. Noch