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Ziel frommer Sehnsucht. In diesem Lande, in welchem einst Milch und
Honig floß, das aber jetzt unter türkischer Verwahrlosung seufzt, sucht
das Auge zuerst und vor allem die Hauptstadt, die heilige Stadt Jerusa¬
lem, das Ziel, nach dem sich die Pilger drängen, das sie mit ^'ebet und
frohem Zurufe begrüßen, die Stadt, auf die das zerstreute Volk Israel
noch ebenso mit Stolz wie mit wehmütigstem Schmerz blickt. Da liegt
sie und stellt sich dem suchenden Auge als eine weiße Mauerreihe mit
hohen Zinnen dar, über welche einige Kuppeln und Minarets, untermischt
mit dem dunkeln Grün der Cypressen, hervorragen. Kahle Berge und
Hügelketten voller Ruinen rings umher — da liegt sie, „die Königin in
dem Lande, die zur Witwe gemacht ist, die der Herr voll Jammer ge¬
macht hat am Tage seines grimmigen Zorns". Das heutige, etwa in
Form eines Vierecks gebaute und mit starken, 13 irr hohen, im reinen
Stil des Mittelalters aus mächtigen Quadern mit Zinnen und vierund¬
dreißig Türmen ausgeführten Mauern umgebene Jerusalem ist eine male¬
rische Stadt. So massiv sind die hohen blinden Mauern der Häuser
angelegt, daß man in den einsamen Straßen durch die labyrinthischen
Gänge einer gewaltigen Festung zu wandern scheint. Kein Fenster geht
ans die Straße, hier und da ein vorspringender vergitterter Erker. Die
Gassen sind nirgends auch nur einige Meter weit eben, sondern klimmen
und krümmen sich mit zerbrochenen Stufen im Zickzack; Rebengewinde
und Blumen ranken und blühen überall aus dem Gemäuer. Die Bevöl¬
kerung ist aus Bekennern der drei monotheistischen Religionen gemischt
und beträgt 25,000 Einwohner. Darunter befinden sich etwa 13,000 Mo-
hammedaner; 4000 arme Juden und 8 —9000 den verschiedensten Bekennt¬
nissen angehörende Christen. Die römisch-katholische Kirche hat jetzt wieder
einen Patriarchen und ein mit Franziskanern besetztes llateinisches) Kloster,
mit der geräumigen, zur Beherbergung der Fremden aufgeführten Casa
nova. Die Griechen, Armenier und andere Parteien der morgenländischen
Kirche besitzen Kirchen und Klöster; England und Preußen haben 1841
ein evangelisches Bistum gegründet; eine gotisch aufgeführte evangelische
Kirche steht aus Zion, auch ein von Diakonissen aus Kaiserswerth geleitetes
Krankenhaus ist vorhanden. Von allen Bekenntnissen wird gegen Reisende
und die noch immer zur Osterzeit heranströmenden Pilger liebevoll Gast¬
freundschaft geübt.
In Jerusalems Umgegend ist jeder Fußtritt ein für christliche Er¬
innerung heiliger Boden; es gibt nicht ein Haus, das nicht seine fromme
Sage hätte, nicht einen Stein, an den sich nicht eine heilige Erinnerung
knüpfte, nicht eine Grotte oder Quelle, die nicht der Schauplatz einer
heiligen Erzählung wäre. Das größte Heiligtum ist die im nordwestlichen
Stadtteile gelegene Kirche des heiligen Grabes. Aus der Vorhalle, der
Engelskapelle, gelangt man in das eigentliche Grab, eine Grotte, welche 2 m
lang, 1 '/, m breit ist. Auf der rechten Seite deckt eine Altarplatte, über der
sechsunddreißig ewige Lampen von Gold und Silber brennen, die eigent¬
liche Grabeshöhlung. Nur immer drei Pilger auf einmal finden Raum,
sich an der heiligen Stätte niederzuwerfen, und ein Klosterbruder ruft
ihnen zu: „Siehe, hier ist das Grab des Herrn und Erlösers Jesu Christi,
der für Deine Sünden in den Tod gegangen ist." Die verschiedenen
Parteien der römisch - katholischen Kirche, nämlich Lateiner, Griechen,
Armenier und Kopten, haben sich in die Räume der Kirche geteilt, und
ihre Lobgesänge verstummen nicht. Jede hat ihre besonderen und be¬
stimmten Andachtsstunden. Gebet und Danksagung an den heiligen Stätten