32
Weltgeschichte.
heil. Die erlebten Schrecknisse und das Bewußtsein der eignen Verderbnis
mußten diesen finstern Wahn hervorbringen, und die Geistlichen beider Parteien
pflegten ihn, um die zagenden Seelen zu beherrschen. Trotz dieser beständigen
Angst vor den Höllenstrasen wurde doch mehr als se gesündigt, und je mehr man
äußerlich ein züchtiges Leben heuchelte, desto schändlichere Dinge trieb man heim¬
lich. Man wollte das verkümmerte Leben doch ans irgend eine Weise genießen.
Da ferner die wahre innere Ehre verloren gegangen war, jagte man nach
ihrem eitlen Scheine, und die Nangsncht bemächtigte sich aller Stände. Die
Kurfürsten wollten es dem Kaiser oder dem Könige in Frankreich gleich thun, die
kleinen Fürsten den Kurfürsten; der Adel buhlte um Titel und Ehrenämter an
den Höfen, der Bürgerliche wollte sich über seinen Stand wenigstens zum Scheine
durch Pracht und Aufwand erheben. Für die Freiheit war aller Sinn verloren;
einige Länder litten sklavisch unter den Launen kleiner despotischer Herren, und
alle wurden einem barbarischen Rechtssysteme und roher Bcamtenwillkür unter¬
worfen. Die schlimmste Verirrung aber unter allen jener Zeit, die zugleich alle
andern in sich begriff, war die Deutschvergessenheit. Niemand ehrte mehr den
heiligen Llamen des Vaterlandes, seine große Vorzeit war vergessen, man fühlte
nicht einmal den ungeheuren Abstand der gegenwärtigen Schande von der ehe¬
maligen Ehre. - Sogar die deutsche Sprache ward beinahe vergessen, und man
mischte sie halb mit lateinischen, französischen, spanischen und italienischen Wörtern,
die man den fremden Soldaten seit dreißig Jahren nachgelallt hatte. Auch die
alte Tracht wurde vergessen, und man kleidete sich nach albernen, wechselnden Moden,
in die Trachten derselben Fremdlinge, die alles Elend und alle Schande ins Land
gebracht hatten. Das waren die Disteln und Dornen, die aus den Trümmern
des alten Deutschlands hervorwuchsen, bis allmählich der gute Grund und Boden
wieder gedeihlichere Saaten aufkeimen ließ.
W. Menzel.
17. Ludwigs XIV. Einfluß auf Deutschland.
Vor dem dreißigjährigen Kriege war Deutschland das reichste und mächtigste
Land Europas. Wie ward das anders, nachdem sich Deutschlands Macht in die¬
sem Kriege fast zu Tode geblutet hatte!
Namentlich Ludwig XIV. von Frankreich spielte mit dem armen Lande fast
nach Willkür; er wollte nicht nur im Innern Frankreichs Herr sein, er wollte
auch Herr sein in Europa. In seinem Uebermuth ließ er sich eine Uhr machen,
in welcher ein künstlicher, französischer Hahn bei jedem Stundenschlag krühete, der
deutsche Adler aber, welcher auch an der Uhr angebracht war, zitterte bei diesem
Krähen jedesmal am ganzen Leibe. Eine große Statue hatte er verfertigen lassen,
die ihn selbst darstellte, stehend auf dem Nacken von vier gefesselten Sklaven, in
deren Attributen man den Kaiser, Spanien, Holland und Brandenburg deutlich
erkannte. Das deutsche Land Elsaß hatte er bereits, da erklärte er plötzlich, daß
er zu alledem, was er vom heiligen deutschen Reiche erobert habe, auch noch alles
das haben müsse, was jemals damit zusammengehangen, z. B. alle Klöster und
Ortschaften, die einmal im Lehnsverbande oder Erbvertrage mit Elsaß gestanden