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Weltgeschichte.
Der Kaiser: Eure Majestät haben mittelst Ihrer Cavallerie stets einen so
dichten Schleier um die Armee gezogen, daß es uns gänzlich unmöglich wurde, ihre
Bewegungen wahrzunehmen und die Größe Ihrer Truppen zu ermessen.
Der König: Wie die Sachen nun stehen, frage ich Eure Majestät, ob Sie
irgend welche Bedingungen für die Zukunft, für die nächsten Unterhandlungen vor¬
zuschlagen gesonnen sind.
Der Kaiser: Sire, ich habe keine Macht. Ich bin ein Gefangener.
Der König: So werden Eure Majestät mich wissen lassen, mit welcher Be¬
hörde in Frankreich ich unterhandeln kann.
Der Kaiser: Die Kaiserin und die Minister in Paris haben allein die Macht
dazu. Wie das Schicksal sich gewendet hat, bin ich vor Eurer Majestät machtlos,
unfähig, Befehle zu geben oder Bedingungen zu machen.
Der König: So viel an mir liegt, bin ich bereit, das Schmerzliche Ihrer
Lage zu erleichtern. Und ich frage, ob es Eurer Majestät gefällt, wenn ich das
Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel Ihnen als Wohnsitz anweise.
Der Kaiser: Ich betrachte diesen Befehl als einen besondern Ausdruck des
Wohlwollens, das Eure Majestät mir zuwendet.
Der König: Vielleicht haben Eure Majestät noch irgend einen Wunsch,
dessen Erfüllung in meiner Macht steht?
Der Kaiser: Da Eure Majestät mich selbst dazu auffordern, so lege ich Ihnen
die Bitte vor, daß mir, so weit ich französisches Gebiet zu passieren habe, starke
militärische Bedeckung gewährt werde.
Der König willigte ein.
Der Kaiser: Auch, wenn Eure Majestät es gestalten, daß die Reise durch
Frankreich so viel wie möglich abgekürzt werde.
Der König: Auch hiermit bin ich gern einverstanden. Ich werde meinen
Gesandten in Brüssel noch heute beauftragen lassen, daß er die Genehmigung zur
Durchreise durch Belgien für Eure Majestät beim König Leopold erwirke.
Der Kaiser: Ich danke Eurer Majestät.
Da der Kaiser von der Aufforderung des Königs, ihm einen Wunsch, den
er etwa hegte, auszusprechen, keinen weiteren Gebrauch machte, so schloß der König
die Unterredung; und mit einem Händedruck Abschied nehmend, schritt er zur Thür,
während der Kaiser ihm folgte.
Im Vorgemach befand sich noch der Kronprinz.
Während der König auf dem Balkon der Freitreppe vorausging, wandte sich
der Kaiser mit absichtlichem Eifer an den Kronprinzen. Und, langsam folgend,
sprach der Kaiser dem Kronprinzen seine Rührung über des Königs einnehmende
Güte und Milde aus. „Ich kann nicht genug Dankes sagen für die Entäußerung
aller Macht und Strenge, für die Theilnahme, welche Seine Majestät meinem
Schicksal unverdient zuwendet."
Der König wartete auf der untersten Stufe der Treppe auf beide. Als hier
nochmals Abschied genommen wurde, standen Thränen in den Augen des Kaisers,
die er schnell durch das Taschentuch zu verbergen suchte.
König und Kronprinz aber stiegen wieder zu Pferde und ritten des Weges
zurück. Werner Hahn.