Aus dem Vaterlande. 57
reicht, nur eine einzige wilde Wasserwüste, deren Schaumkämme blendendweiß gegen
das trübe Grau der Wogen abstechen. Kein Schiff ist weit und breit zu erspähen;
alle sind vor dem Sturme in sichere Buchten geflüchtet, und nur hier und dort
kündet ein einsamer Weidenbaum, der mit seinem nickenden, wild zerzausten Haupte
ans den Fluten ragt, daß da unter den wilden Wogen grünes, fruchtbares Land liegt.
Und noch immer höher schwillt das Gewässer; jetzt ist auch die Bärme, der
Fuß des Deiches, beflutet, endlich der Deich selbst, und es beginnt durch den Wider¬
stand desselben eine furchtbare Brandung, ein wahrhaft erhabenes Schauspiel. Mit
zerstörender Gewalt schnaubt Woge auf Woge auf ihn hinauf; kaum wird die erste
zurückgewiesen von seiner Schrägung, als schon die nächste mit erneuter Wuth
heranrollt. Dazu steigt die Flut noch mit jedem Augenblicke. Hochanf bäumen
sich die wilden Wasser und schauen gierig über den Deich ins gesegnete Land, weit
hinein ihren sträubenden Schaum schleudernd, als ob sie der Anblick ihres alten
Eigenthumes mit doppelter Wuth erfüllte. Dazu der heulende Sturm, der des
Himmels dunkle Regenwolken in rasender Eile vor sich hinjagt; Scharen segelnder
Möven, die umsonst mit dem Winde kämpfen, bis sie ermattet sich auf die geschütz¬
ten Wiesen und Aecker flüchten; und endlich hie und da ein Marschbewohner, der
trotz Sturmgewalt und Wogendrang sich mühsam längs des Deiches durch den
spritzenden Schaum arbeitet, um zu erspähen, ob ihm nicht die Fluten einen Bal¬
ken oder einige Bretter oder sonst eine Beute zutreiben: alles dies vereint gibt ein
Bild von wilder Großartigkeit.
Doch der Marschbewohner blickt noch immer kalt und ruhig in den Aufruhr.
Hat nur der Deich hinreichende Höhe und Schrägung, so wird er nicht vor einer
Flut weichen, ob auch ihre Wogen noch so mächtige Stücke herausreißen und noch
so tiefe Höhlungen in seinen Leib wühlen.
Doch wehe ihm, wenn das Wasser so hoch steigt, daß es mit dem Gipfel
des Deiches gleich wird. Vom unablässigen Bespülen ist dann bald die festgetretene
Kappe erweicht, und das Schicksal der Menschen hängt oft nur an einem Haar.
Die geringste Lockerheit des Erdreiches, ein einziges Mauseloch oder ein Maulwurfs¬
gang kann jetzt Ursache des größten Unglückes werden. Durch die kleinste Rinne
dringt sofort das Wasser, spült sie weiter, und im Nu reißt ein Stück der
Kappe fort.
Ist aber das geschehen, so ist auch ein Durchbruch unvermeidlich; denn mit
furchtbarer Gewalt dringt jetzt die hochaufgcstante Flut durch die entstandene Oeff-
nung, die mit jeder Minute breiter und breiter wird. Da endlich bricht auch das
letzte noch feste Erdreich bis ans den Grund fort, und durch nichts mehr gehemmt,
schießt donnernd und brausend der rasende Strom durch die weite Gasse dahin,
tief den Grund aufwühlend, alles, was er auf seinem Wege findet, mit sich fort¬
spülend, Häuser im Nu zertrümmernd, Bäume ausreißend, Menschen und Thiere
in seinen Fluten begrabend und bald die ruhige Marschebene in eine wilde, graue
Wasserfläche verwandelnd.
Sowie sich daher eine Kappstürzung zeigen will, wird in höchster Hast das
Möglichste aufgeboten, um dieselbe zu verhindern. Sandsücke, Mist, Stroh, Bal¬
ken, Bretter, alles, was nur irgend dienlich sein kann, wird zur Verstärkung auf
die bedrohte Stelle gebracht. Ja, als bei der großen Flut am 21. October des