Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

es kann sich also jeder Geselle, auch du, mein lieber Schneidergeselle, 
selbständig machen, ohne seine Meisterprüfung abzulegen und, was 
noch mehr heißen will, sie zu bestehen. Aber wohlgemerkt — wenn 
der Schneidergeselle auch heute seine eigene Werkstatt auftut, so wird 
er damit doch noch kein Schneidermeister! Er bleibt Schneider 
und hat nicht das Recht, sich Meister zu nennen. Wollte er gar an 
seiner Werkstatt ein Schild mit dem Meistertitel anbringen, so würde 
die Behörde wohl ein herzhaftes Wörtlein mit ihm sprechen. Nun 
ist vielleicht mancher da, der sagt: Was nützt mich denn der Meister¬ 
titel! Er hat für mich doch nicht soviel Wert, daß ich um seinethalben 
mich einer Prüfung unterziehen sollte. Wer weiß, wie sie ausfällt. 
Ist das nun wahr, hat die Meisterprüfung denn für den 
Handwerker so geringen Wert? Jedenfalls wird seitens der Hand¬ 
werkskammern immer mehr darauf hingearbeitet werden, um dem 
Meistertitel wieder als Ehrentitel Geltung zu verschaffen. Es wird 
heute schon angestrebt, daß die Behörden bei Vergebung öffentlicher 
Arbeiten und Lieferungen nur den Handwerker berücksichtigen, der 
seine Meisterprüfung abgelegt und damit den Meistertitel erworben 
hat. Vor allen Dingen wird aber die Kundschaft sich bei Bestellung 
von Arbeiten an diejenigen selbständigen Handwerker wenden, von 
denen sie die Gewißheit hat, daß sie etwas Tüchtiges in ihrem 
Handwerk leisten und dies durch Ablegung der Prüfung bewiesen 
haben. 
Durch die Meisterprüfung soll ja doch, wie die Gewerbe- 
Ordnung sagt, der Prüfling dartun, daß er die Befähigung zur 
selbständigen Ausführung und Kostenberechnung der gewöhnlichen 
Arbeiten des Gewerbes, sowie der zu dem selbständigen Betriebe 
desselben sonst notwendigen Kenntnisse, insbesondere auch der Buch- 
und Rechnungsführung, besitzt. Wir haben gewissermaßen in der 
Meisterprüfung einen freiwilligen Befähigungsnachweis! Damit 
ist eng verbunden die Verleihung des Meistertitels. Fragen wir 
uns nun: 
Wer darf den Meistertitel führen? 
Seit dem 1. Oktober 1901 darf nur noch derjenige selbständige 
Handwerker den Meistertitel führen, der an diesem Termin 
1. mindestens 24 Jahre alt war und 2. für sein Handwerk die Be¬ 
fugnis zur Anleitung von Lehrlingen besaß. Er mußte darnach ent¬ 
weder fünf Jahre hindurch das Handwerk selbständig ausgeübt 
haben, oder fünf Jahre als Werkmeister oder in ähnlicher Stellung 
in seinem Gewerbe tätig gewesen sein. Das Recht zur Lehrlings¬ 
ausbildung besitzt indes auch der Handwerker, der mindestens eine 
dreijährige Lehrzeit zurückgelegt und die Gesellenprüfung bestanden hat. 
Für die Handwerker, die am 1. April 1901, dem Tage 
des Inkrafttretens der neuen Lehrlingsbestimmungen, wenigstens
	        
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