Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

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Es gibt junge Leute, die sei glücklich sind, die eigentliche Be¬ 
rufswahl bis in reifere Jahre hinausschieben zu können, etwa bis 
zum zwanzigsten Jahre. Bis dahin können sie sich allgemeine 
Bildung aneignen und im Leben umsehen, welches Arbeitsfeld ihnen 
am besten zusagt. Man möchte vielleicht meinen, das sei ein un¬ 
berechenbarer und nicht mehr einzuholender Vorteil. Aber man 
soll diesen Vorteil doch nicht überschätzen. Söhne aus wohlhaben¬ 
den Häusern, die mit ihrer Berufswahl so lange warten können, 
büßen dabei leicht an Willenskraft ein, wiegen sich zu lang in 
Zweifeln und lassen schließlich doch eine Zufälligkeit über ihren 
Beruf, entscheiden. 
Die meisten müssen diese Entscheidung früher treffen, kknd 
welche Mächte sind es dann, die diese Entscheidung herbeiführen? 
Zunächst die Mittel der Eltern oder Ernährer. Sind diese 
Mittel nur bescheiden, so schließen sie von vornherein gewisse Ve- 
rufsarten aus. Der Sohn eines armen Arbeiters wird gut tun, 
sich nicht etwa den Beruf eines Offiziers oder eines Diplomaten 
einzubilden. Ausnahmsweise ist es vorgekommen, daß auch aus 
der Arbeiterklasse Söhne zu hohen militärischen und staatlichen 
Würden aufgestiegen sind. Feldmarschall Derfflinger war ein 
Bauernsohn; Feldmarschall Ney, Herzog und Pair von Frankreich, 
hatte einen Böttcher zum Vater; Abraham Lincoln, Präsident der 
Vereinigten Staaten, war der Sohn eines bescheidenen Farmers 
und in seiner Jugend Vootsteurer. Solcher Beispiele ließen sich 
zahlreiche anführen. 
In Deutschland ist es für den Sohn armer Eltern insofern 
schwierig, emporzukommen, als die höheren Berufsstellungen eine 
langwierige Ausbildung auf mittleren und höheren Schulen vor¬ 
aussetzen. Dafür ist auch dem Ärmsten, wenn er besonderes Talent 
und Fleiß mitbringt, diese Vorbildung mit Hilfe der allerorts be¬ 
stehenden Stipendien ermöglicht. Dies geht soweit, daß selbst junge 
Leute mit nur mäßiger Begabung mittels dieser Hilfe durch alle 
Schulen sich hindurcharbeiten können. 
Ein andres, was sehr häufig den Beruf des angehenden Mannes 
bestimmt, ist der Beruf des Vaters. Wo nicht eine besondere Lust, 
Befähigung für einen neuen Beruf im Sohne liegt, erscheint es als 
das Vernünftigste, daß er den Beruf des Vaters wählt. Aber doch 
nur dann, wenn dieser Beruf ein solcher ist, der dem Sohne gestattet, 
wirtschaftlich oder gesellschaftlich emporzusteigen. Der Sohn eines 
Geschäftsmannes, welcher neben dem Geschäft auch die ganze geschäft¬ 
liche Erfahrung des Vaters erben kann, wird, wenn er nicht besondere 
natürliche Anlagen besitzt, in keinem anderen Berufe so rasch vor¬ 
wärts kommen, als im väterlichen, wo ihm eine Lebensstellung schon 
aufgebaut wird, ehe er selbständig zu denken anfängt.
	        
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