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130. Die Anfänge der Schrift.
Naturvölker bedürfen der Schrift nicht; denn in ihren einfachen
Lebensverhältnissen richten sie den Blick mehr auf die Gegenwart
als auf die Zukunft, und diese gibt fast nur zu mündlicher Aus¬
sprache Anlaß. Wenn sie aber Ereignisse für bedeutend genug halten,
der Nachwelt überliefert zu werden, dann verleihen sie ihnen gern
ein dichterisches Gewand, um sie dem Gedächtnis der Kinder und
Kindeskinder leichter einzuprägen und damit von Geschlecht zu
Geschlecht fortzupflanzen. Bedenken wir aber, daß diese Dichtungen
noch jahrhundertelang von berufsmäßigen Sängern mündlich weiter
verbreitet wurden, als schon längst die Schreibkunst in griechischen
und deutschen Landen bekannt worden war. Wir werden es dann
begreiflich finden, welche Gewalt die mündliche Überlieferung in
einer Zeit hatte, wo die geistige Fassungskraft des Volkes noch
frisch und ungeschwächt war. Konnte nun die Schrift auch das
gesprochene Wort nicht ersetzen, weil sie den Ton und die Klangfarbe
der Stimme nicht wiedergab, so war sie doch mit fortschreitender
Gesittung unentbehrlich und wurde hier früher, dort später als
Bedürfnis empfunden. Und zwar stellte man die Gegenstände,
soweit dies anging, zunächst bildlich dar. Daher bestehen die ältesten
Schriftarten, von denen wir Kunde haben, ursprünglich nur aus
Bildern. Wenn wir die ägyptischen Hieroglyphen durchmustern,
so finden wir darin Adler, Sperlinge und Löwen, Schlangen und
andere Tiergestalten vertreten, ebenso läßt sich noch aus den ältesten
Urkunden Chinas und Japans und den keilartigen Zeichen Assyriens,
Babyloniens und Persiens erkennen, daß Tier- und Pflanzenformen
den Schriftzeichen zum Muster gedient haben.
Der erste Schritt, den mait vorwärts tat, bestand darin, die
Form und Geltung der Bilder nach Übereinkunft genau zu bestimmen
und durch ein rebusartiges Verfahren den einzelnen verschiedene
Bedeutung zu gebeu; weit wichtiger aber war es für die Fortbildung
der Schrift, daß man im Laufe der Jahrhunderte die Worte schlie߬
lich in Silben zerlegen und für jede Silbe ein eigenes Zeichen ge¬
brauchen lernte. Denn dadurch wurde, weil sich einzelne Lautgruppeu
immer wiederholten, die Menge der nötigen Schriftbilder wesentlich
verringert. Aber während die Chinesen und Japaner aus dieser
Stufe stehen geblieben sind, haben die übrigen Völker iin Laufe
ihrer Entwickelung die letzte entscheidende Tat vollführt, besondere
Bilder für die einzelnen Laute auszuprägen, wodurch die Zahl
der Zeichen auf einige Dutzend herabgesetzt wurde. Was später
noch geschehen ist, beschränkt sich auf Abschleifung, Abrundung und
engere Verbindung der Buchstaben, da inan bei stark zunehmendem
Schreibverkehr darauf bedacht seiu mußte, seine Gedanken möglichst
rasch festzulegen.