Full text: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

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Schmerz einer bekümmerten Menschenseele. Jetzt blieben die Leute stehen. 
Keiner ging vorüber. Alle lauschten atemlos den wundervollen Tönen 
und Melodien. Immer größer wurde der Kreis der Zuhörer. Selbst 
die glänzenden Wagen der vornehmen Herrschaften hielten an. Was 
aber der vornehme Geiger eigentlich beabsichtigte, erkannte jedermann, 
nämlich, daß er für den armen Invaliden spielte, um das Mitleid für 
ihn zu wecken. Man gab reichlich in den alten Hut, den der arme 
Mann bittend hinhielt. Da fiel Gold, Silber und Kupfer, je nachdem 
es die Leute hatten, und je nachdem das Herz war, mild oder zähe. 
Der Pudel knurrte; war's Vergnügen, oder war er ärgerlich, daß ihm 
sein Herr heute ins Handwerk pfuschte, wo es so vortrefflich ging? 
Endlich war der Hut voll. Der Alte mußte ihn ausleeren. Und der 
Fremde spielte und bewegte die Herzen so wunderbar, daß der Hut noch 
einmal schier bis zum Überlaufen voll wurde. Die Augen des Fremden 
leuchteten vor Freude, uud er spielte, daß es totenstill in der Menge war 
und dann plötzlich ein Beifallssturm losbrach, der gar nicht enden wollte, 
bis er wieder begann und es wieder so still in der Menge wurde, daß 
man die Herzen hätte schlagen hören können. 
Allmählich aber wurde es kühl und die Abendluft feucht. Jetzt 
ging der Fremde in die Melodie des Liedes: „Gott erhalte Franz den 
Kaiser" über, die jeder Österreicher kennt und lieb hat. Alle Hüte und 
Mützen flogen von den Köpfen, und allgemach wurde die Lust des Volkes 
so groß, daß tausend Stimmen das Lied sangen. Der Geiger spielte 
mit der größten Begeisterung. Plötzlich aber legte er die Geige in des 
Alten Hand, nahm seinen Hut, nickte dem Alten freundlich zu, und ehe 
der alte Mann ein: „Gott vergelt's!" und ein: „Dank' schön!" sagen 
konnte, war er verschwunden. 
Der Gesang verstummte endlich, als das Lied zu Ende war. 
„Wer war das?" fragte das Volk, gegen den Invaliden an¬ 
stürmend. 
„Ich weiß es nicht," erwiderte der alte Mann, „aber Gott hat ihn 
mir zu Hilfe gesandt; denn ich hätte ohne ihn heute hungern müssen." 
Da trat ein Herr vor und sagte: „Ich kenne ihn sehr wohl, es 
war der ausgezeichnete Geigenkünstler Alexander Boucher, der seit einigen 
Tagen in Wien ist und hier seine Kunst im Dienste der Barmherzigkeit 
übte. Lasset uns sein Beispiel nicht vergessen!" 
Nun nahm der Herr seinen eigenen Hut vom Kopfe und sagte: 
„Boucher spielte für diesen armen Invaliden, den wir heute alle ver¬ 
gaßen!" — Alle gaben noch einmal, und als der Herr den Hut in des 
Invaliden Sack ausgeleert hatte, rief er: „Boucher lebe doch!" 
„Hoch! Hoch! Hoch!" rief das Volk. 
Und dem Invaliden rollten die heißen Freuden- und Dankestränen 
über die Wangen. Er faltete seine Hände und betete: „Herr, belohne, 
vergilt du es ihm reichlich!" 
Ich glaube, es gab an diesem Abend in Wien zwei, die zu den 
Glücklichsten zu rechnen waren; der eine war der Invalide, der nun
	        
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