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Wunder zu vernehmen berechtigt ist. Wie mächtig dies dadurch entstehende Band
sei, zeigt an natürlichen Menschen jenes herzzerreißende Heimweh. Ohne diese sie
begleitende Poesie müßten edle Völker vertrauern und vergehen; Sprache, Sitte
und Gewohnheit würde ihnen eitel und unbedeckt dünken, ja, hinter allem, was sie
besäßen, eine gewisse Einfriedigung fehlen. Auf solche Weise verstehen wir das
Wesen und die Tugend der deutschen Volkssage, welche Angst und Warnung vor
dem Bösen und Freude an dem Guten mit gleichen Händen austeilt. Noch geht
sie an Örter und Stellen, die unsere Geschichte längst nicht mehr erreichen kann,
vielmehr aber fließen sie beide zusammen und untereinander; nur daß man zuweilen
die an sich untrennbar gewordene Sage wie in Strömen das aufgenommene
grünere Wasser eines andern Flusses noch lange zu erkennen vermag.
HL Märchen und Erzählungen.
a) Märchen.
1. Jakob Grimm (1785—1863) und Wilhelm Grimm (1786—1859).
Quelle: Kinder- und Hausmärchen. Kleine Ausgabe8S. Berlin 1885.
Der Arme und der Reiche.
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen
wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war und ihn die Nacht
überfiel, ehe er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Wege
vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere
klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem reichen, das kleine einem
armen Manne. Da dachte unser Herrgott, dem Reichen werde ich nicht beschwerlich
fallen, bei ihm will ich anklopfen. Der Reiche, als er an seine Tür klopfen hörte,
machte das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suchte. Der Herr ant¬
wortete: „Ich bitte nur um ein Nachtlager". Der Reiche guckte den Wandersmann
an vom Haupt bis zu den Füßen, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug
und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem
Kopf und sprach: „Ich kann Euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll
Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Tür
klopfte, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hände nehmen. Sucht anderswo
ein Auskommen." Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben Gott stehen.
Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken, ging hinüber zu dem kleinen Haus
und klopfte an. Kaum hatte er angeklopft, klinkte der Arme schon sein Türchen
auf, bat den Wandersmann einzutreten und bei ihm die Nacht über zu bleiben.
„Es ist schon finster", sagte er, „und heut könnt Ihr doch nicht weiterkommen."
Das gefiel dem lieben Gott, und er trat zu ihm ein. Die Frau des Armen reichte
ihm die Hand, hieß ihn willkommen und sagte, er möchte fich's bequem machen