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Brunhildens Starke erschien überaus gewaltig. Man trug ihr in den 
Kreis einen runden Stein, der war von unmäßiger Last und von unge¬ 
heurer Größe, so daß ihn kaum zwölf der kühnen, schnellen Recken 
tragen konnten. An ihren weißen Armen streifte sie die Ärmel empor, 
faßte den Schild mit der Hand und zuckte den Speer hoch; da ging 
es an den Streit. Die Fremden bangten vor Brunhildens Zorn, und wäre 
nicht Siegfried da zu Hilfe gekommen, so hätte Günther sein Leben 
eingebüßt. Heimlich trat Siegfried heran und rührte seine Hand. Diese 
List machte Günthern große Sorge, doch jener flüsterte ihm zu: „Den 
Schild gieb mir von der Hand und laß mich ihn tragen und nun merke 
wohl, was du mich sagen hörst: mache du die Gebärde, das Werk will 
ich bestehn.“ So wurde die starke Brunhilde trotz ihrer gewaltigen 
Kräfte von Günther unter dem Beistände Siegfrieds überwunden. 
Nach Beendigung des Kampfes rief die Königin ihr Hofgesinde 
herzu und sprach: „Kommet näher her, ihr meine Verwandten und 
Mannen, ihr sollt nun alle dem König Günther Unterthan werden.“ Da 
legten die Kühnen die Waffen von der Hand und beugten sich vor Gün¬ 
thern, dem reichen Könige von Burgunderland; denn sie wähnten, er 
habe mit seiner Kraft die Spiele gewonnen. 
Siegfried der Schnelle trug weislich seine Tarnkappe wieder fort 
und trat dann in den Saal, wo die Ritter und Frauen versammelt waren. 
„Wohl mir um der Kunde willen,“ sprach er, „daß Eure Hochfahrt also 
erlegen, und daß jemand lebt, der Euer Meister ist! Nun sollt Ihr uns 
von hinnen an den Rhein folgen, edle Maid!“ 
Und so geschah es. Brunhilde zog mit den Helden nach Worms 
und ward die Gemahlin Günthers; Kriemhilde aber wurde dem Siegfried 
vermählt, und dieser kehrte dann mit ihr in seine Heimat zurück. 
63. Der Bürger Mäuseturm. (974.) 
Die Brüder Grimm. Deutsche Sagen. Berlin. 1816—18. Nicolaische Buchh. I. 8. 328. 
Zu Bingen ragt mitten aus dem Rhein ein hoher Turm, von dem 
nachstehende Sage umgeht. Im Jahre 974 ward große Teuerung in Deutsch¬ 
land, daß die Menschen aus Not Katzen und Hunde aßen, und doch viele 
Leute Hungers starben. Da war ein Bischof zu Mainz, der hieß Hatto der 
Andere, ein Geizhals, dachte nur daran, seinen Schatz zu mehren, und sah 
zu, wie die armen Leute auf der Gasse niederfielen und bei Haufen zu den 
Brotbünken liefen und das Brot nahmen mit Gewalt. Aber kein Erbarmen 
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