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men versehene Mauer, welche nach der Landseite 17 und nach dem Flusse 26 Thore
hatte, ehrwürdigen Anblick. Aus einem der höchsten Hügel erhob sich die Burg,
ein starkes, altes Gebäude, ausgezeichnet durch ihre Größe und den arabischen
Geschmack, in welchem sie gebaut war. Der Adel hatte treffliche Hauser aus Qua¬
dersteinen mit schönen Garten, welche der Stadt zur Zierde gereichten, wenn auch
die übrigen Häuser schlecht, die Straßen enge und zum Theil sehr steil waren.
Außer der altgothischen, inwendig prächtig geschmückten Kathedrale oder
Hauptkirche auf einem Hügel zahlte die Stavt 40 Kirchen, 25 Mönchs-, 18 Nonnen-
und 130 Klöster für Laien oder Weltgeistliche, welche Kapellen und Priester hiel¬
ten, und mehrere große Hospitäler. Der königliche Palast, aus dessen Fenstern
man den Hafen, der 10000 Schiffe fassen konnte und 18 Klafter Tiefe hatte, über¬
sah, gewahrte vom Flusse aus einen prächtigen Anblick und bildete die Seite eines
großen Vierecks, dessen andere Seiten das Korn- und Zollhaus, die Fleischbänke rc.
einnahmen. Auf diesem Platze hielt man Stiergefechte und verbrannte die Un¬
glücklichen, welche von dem Jnquisitions- oder Glaubens-Gerichte als Ketzer zum
Tode verdammt waren.
So war Lissabon am Morgen des ersten Novembers iloch eine der schönsten,
reichsten und bevölkertsten Städte, und Abends ein dichter Schutthaufen, eine dam¬
pfende Brandstätte, ein unabsehbares Leichenfeld. Der Morgen war heiter ange¬
brochen, der Himmel lachend, das Wetter stille, kein Lüftchen regte sich; aber gegen
10 Uhr hörte man in den Straßen ein dumpfes Rollen wie von einer Menge Ka¬
rossen, die Erde kam IO Minuten lang in gewaltig wogende Bewegung, und diese
kurze Zeit reichte hin, die schönsten Paläste, die herrlichsten Kirchen, in denen wegen
des Allerheiligenfestes Tausende von Menschen versammelt waren, und unzählige
Privathäuser in bejammernswürdige Trümmer zu verwandeln, unter denen die Be¬
wohner einen grausigen, mehr oder minder schmerzlichen Tod fanden.
Die Oasa santa, das Haus der Inquisition, stürzte zuerst zusammen; das
prächtige Jesuiten-Collegium begrub alle seine Bewohner; das königliche Schloß
wurde mit allen seinen Kostbarkeiten, vier Millionen Thaler an Werth, von der
Erde verschlungen; die königliche Familie befand sich glücklicherweise in dem reichen
Kloster Belem an der Mündung des Tajo; der große Uferdamm (Kai), wo in der
«. Nähe der Zollhäuser, neben den Produkten der heißen Zone: Kaffee, Zucker, Indigo,
Elfenbein, Goldstaub, Seide, Baumwolle, Zimmt, Muskaten, Juwelen, Früchten,
Farben, die Erzeugnisse des Europäischen Kunstfleißes aus Birmingham, Lyon,
Nürnberg, Chemnitz, Solingen, Elberfeld rc. aufgehäuft lagen und Schiffer, Ma¬
trosen, Lastträger, Mohren, Türken, Juden, Armenier und Christen vom Morgen
bis in die Nacht geschäftig waren, versinkt binnen einer Minute mit seinem Reich¬
thum, ohne daß eine Seele entkommt, und Wasser tritt an die Stelle und jede
Spur des großen Platzes ist entschwunden.
Jammer, Wehklagen, Entsetzen überall! Greise, Frauen, Kinder, Kranke, die
noch im Bette lagen, wurden erstickt, ohne daß man ihnen Hülfe leisten konnte;
oder sie wurden zerschmettert, verschüttet und so dem schaudervollen Hungertode
Preis gegeben. Händeringend und halb bekleidet suchen Andere die freien Plätze
oder die Landstraßen zu erreichen, werden aber gruppenweise von fallenden Ge¬
bäuden oder einem Hagel von Steinen zermalmt. Ein Haufe eilt nach dem Platze
am königlichen Palast, um sich auf die Schiffe zu begeben; aber plötzlich stürzt der
Strom 20—30 Fuß hoch den Platz hinan und tritt dann blitzschnell zurück; Men¬
schen werden weggerissen, Böte verschlungen, alles Zimmerholz der königlichen
Werste hinweggeschwemmt, Schiffe, welche eben noch 6 Klafter Tiefe im Tajo
hatten, sitzen auf dem Trocknen; und diese grausenvolle Ebbe und Fluth, welche
auch dem rohesten Seefahrer bange machte, wiederholte sich an diesem Tage viermal.