I. Lebensbilder.
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zum Fenster hereinregnete. Er sagte immer: „Wo nichts ist, kommt
nichts hin." Und so war es auch. Er blieb sein lebenlang ein armer
Schlucker, weil es ihm nie der Mühe wert war, mit einer kleinen Er¬
sparnis den Ansang zu machen, um nach und nach zu einem größeren
Vermögen zu kommen. So dachte der jüngere Bruder nicht, der pflegte
zu sagen: „Was nicht ist, das kann werden." Er hielt das Wenige,
was ihm aus der Verlassenschaft der Eltern zu teil geworden war, zu
Rate und vermehrte es nach und nach durch eigene Ersparnis, lindem
er fleißig arbeitete und eingezogen lebte. Anfänglich ging es hart und
langsam. Aber sein Sprichwort: Was nicht ist, das kann werden, gab
ihm immer Mut und Hoffnung. Mit der Zeit ging es besser. Er
wurde durch unverdrossenen Fleiß und Gottes Segen noch ein reicher
Mann und ernährt jetzt die Kinder des armen Bruders Wo-nichts-ist, der
selber nichts zu leisten und zu brechen hat.
Hebel.
2. Frisch gewagt, ist halb gewonnen.
„Frisch gewagt, ist halb gewonnen!" — daraus folgt: „Frisch ge¬
wagt, ist auch halb verloren!" Das kann nicht fehlen, deswegen sagt man
auch: „Wagen gewinnt, wagen verliert." Was muß also den Ausschlag
geben? Prüfung, ob man die Kräfte habe zu dem, was man wagen
will; Überlegung, wie es anzufangen sei; Benutzung der günstigen Zeit und
Umstände und hintennach, wenn man sein mutiges A gesagt hat, ein
besonnenes B und sein bescheidenes C. Aber so viel muß wahr bleiben:
wenn etwas Gewagtes soll unternommen werden, und kann nicht anders
sein, so ist ein frischer Mut zur Sache der Meister und der muß sich
durchreißen. Aber wenn du immer willst und fängst nie an, oder du
hast schon angefangen und es reut dich wieder, und willst, wie man sagt,
auf dem trockenen Lande ertrinken, guter Freund, dann ist „schlecht ge¬
wagt, ganz verloren."
I. P. Hebel.
3. Der Klügste giebt nach.
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß derjenige wohl der Allerklügste sei,
der immer uachgiebt. Alles zur rechten Zeit und am rechten Orte. Hast
du dich aber in einen Streit eingelassen und du merkst, es führe doch am
Ende zu nichts, der andere aber merkt das nicht, sondern will eben durch¬
aus recht behalten um jeden Preis, o so laß es ihm, gieb nach und hör'
auf zu streiten. Mag der andere auch noch so klug sein, du handelst doch
am klügsten. Und wenn du einem Grobian begegnest in enger Straße,
wo schwer auszuweichen ist, laß ihm den Vorrang, weiche du aus und
gieb nach. Wo sich's aber um wirkliches Recht, um Ehre und Tugend
handelt, da giebt der Klügste erst dann nach, wenn er der Gewalt weichen
muß. Wer aber solch ein Klügster sein will, muß allemal wissen, wann
und wo. K. Enslin.
4. Rat und That führen den rechten Pfad.
Derjenige Mensch, welcher stets handelt, ohne überlegt zu haben,
wird so wenig Segen ernten, als der, welcher stets überlegt, ohne zu