I. Lebensbilder.
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lerinnen, auch sogar einige, die des Tages über lahm gewesen waren, mit
einander tanzten. Gassenlieder folgten. Dann ward von gewärmtem
Porter und Rum ein starker Punsch gemacht, die Zeitung dabei gelesen
und der Abend bis 3 Uhr des Vöorgens mit Trinken und politischem
Urteilen auf das vergnügteste zugebracht.
Scheint es nicht, als wenn der Bettelstab sehr viel Reizendes hat?
Wer viel hungert, durstet, friert, hat unendlich mehr Vergnügen an Speise,
Trank und Wärme als einer, der alles im Überfluß hat. Was ist ein
König, der nie zum Hungern oder Dursten kömmt, gegen einen solchen
Bettler, der sechs Stunden des Tages Frost, Regen, Durst und Hunger
ausgehalten und damit alle seine Bedürfnisse zum höchsten gereizet hat;
jetzt aber sich bei einem guten Feuer niedersetzt, sein erbetteltes Geld über¬
zählt und das Vergnügen hat, sich am stärksten und besten verstohlener¬
weise zu sättigen. Er schläft ruhig und unbesorgt, bezahlt keine Steuern,
thut keine Dienste, lebt ungesucht, ungefragt, unbeneidet und unverfolgt,
erhält und beantwortet keine Komplimente, errötet bei keinem Loch im
Strumpfe, wohnt und reiset sicher vor Dieben, findet jede Herberge bequem
und überall Brot, leidet nichts von betrügerischen Freunden, trotzt dem
größten Herrn und ist der ganzen Welt Bürger. Alles, was ihm dem
Anschein nach fehlt, ist die Delikatesse, oder der Ekel, womit wir alles,
was nicht gut aussieht, verschmähen. Allein, wer ist der Glücklichste,
könnte man fragen, der Mann, der ein Stück Brot, wenn es gleich sandig
ist, vergnügt hinunterschlucken kann, oder der Zärtling, der in allen Her¬
bergen hungern muß, weil er seinen Mundkoch nicht bei sich hat? . . .
Wie beschwerlich ist dagegen der Zustand des fleißigen Arbeiters, der sich
vom Morgen bis zum Abend quälet, sich und seine Familie im Schweiße
seines Angesichts zu ernähren! Alle öffentlichen Lasten fallen auf ihn;
um sich in Ansehen und Kredit zu erhalten, muß er oft Wasser und Brot
genießen, seine Nächte mit ängstlicher Sorge zubringen und eine heimliche
Thräne nach der andern vergießen.... Wenn ich solchergestalt den ehr¬
lichen fleißigen Arbeiter mit dem Bettler vergleiche, so muß ich gestehen,
daß es eine überaus starke Versuchung sei, lieber zu betteln, als zu
arbeiten. Das einzige, was den Bettlern bisher gefehlt hat, ist dieses,
daß ihre Nahrung unrühmlich gewesen und diesem Fehler will ich
nächstens abhelfen.
II.
Wie, Sie wollen das Betteln rühmlich machen? In
der That, das fehlt den faulen Müßiggängern noch. Allein herunter
mit dem Schleier, herunter mit dem Regentuch, worin sich viele unserer
Bettlerinnen verstecken, um ihre Ehre nicht zu verlieren. Verdient eine
arme unglückliche Person so viel Schonung, so sorge man für sie daheim
und setze dieselbe nicht der traurigen Notwendigkeit aus, ihr Brot vor
den Thüren zu suchen. Verdient sie es aber nicht, so verfolge Schimpf
und Verachtung den verschuldeten Bettler! Er gehe, wenn er ja
gehen soll, als ein Scheusal durch die Gassen und sei allen jetzt wankenden,
Ahrens, Lehr- und Lesebuch für Fortbildungsschulen. 4