Full text: Haus und Welt (Bd. 3)

226 
9. Franziska. 
In einem unscheinbaren Dörfchen am Rhein sass eines Abends, 
als es schon dunkeln wollte, ein armer junger Mann, ein Weber, 
noch an dem Webstuhl und dachte während der Arbeit unter 
anderem an den König Hiskias, hernach an Vater und Mutter, 
denen ihr Lebensfaden auch schon von der Spule abgelaufen war, 
hernach an den Grossvater selig, dem er einst auch noch auf 
den Knien gesessen und an das Grab gefolgt war, und war so 
vertieft in seinen Gedanken und in seiner Arbeit, dass er gar 
nichts davon merkte, wie eine schöne Kutsche mit vier statt¬ 
lichen Schimmeln vor seinem Häuslein anfuhr und stille hielt. 
Als aber etwas an dem Schlosse der Thür drückte und ein 
holdes, jugendliches Wesen hereintrat, von weiblichem Ansehen, 
mit wallenden, schönen Haarlocken und in einem langen himmel¬ 
blauen Gewand, und als das freundliche Wesen ihn fragte mit 
mildem Ton und Blick: „Kennst du mich, Heinrich?“ da war 
ihm, als ob er aus einem tiefen Schlafe aufführe, und war so er¬ 
schrocken, dass er nicht reden konnte. Denn er meinte, es sei 
ihm ein Engel erschienen, und es war auch so etwas von der 
Art, nämlich seine Schwester Franziska, aber sie lebte noch. 
Einst hatten sie manches Körblein voll Holz barfufs mitein¬ 
ander aufgelesen, manches Binsenkörbchen voll Erdbeeren am 
Sonntag miteinander gepflückt und in die Stadt getragen und 
auf dem Heimwege ein Stücklein Brot miteinander gegessen, 
und jedes afs wenig davon, damit das andere genug bekäme. 
Als aber nach des Vaters Tode die Armut und das Hand¬ 
werk die Brüder aus der elterlichen Hütte in die Fremde ge¬ 
führt hatte, blieb Franziska allein bei der alten, gebrechlichen 
Mutter zurück und pflegte ihrer also, dass sie dieselbe von dem 
kärglichen Verdienst ernährte, den sie in einer Spinnfabrik erwarb. 
In den langen, schlaflosen Nächten wachte sie mit ihr und erzählte 
ihr aus einem alten zerrissenen Buch von Holland, von den schönen 
Häusern und von den grossen Schiffen. Das Alter und die 
Wunderlichkeit der kranken Frau ertrug sie mit kindlicher Ge¬ 
duld. Einmal aber früh um zwei Uhr sagte die Mutter: „Bete 
mit mir, meine Tochter. Diese Nacht hat für mich keinen Morgen 
mehr auf dieser Welt!“ Da betete und schluchzte das arme 
Kind und küsste die sterbende Mutter, und die Mutter sagte:
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.