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Der Kaiser wünschte dieselbe zu hören; leider war der Lehrer
und Organist Ohlschläger augenblicklich nicht gegenwärtig.
Scherzend meinte die Kaiserin: „Nun, da wird wohl meine
Tochter Viktoria spielen müssen." Sofort stieg die Prinzessin
zum Chor hinauf, setzte sich an die Orgel und intonierte nach
kurzem Vorspiel den Choral „Lobe den Herren, den mächtigen
König der Ehren". Der Kaiser hatte auf einer kleinen niedrigen
Bank seitwärts vom Altar Platz genommen. Die Hände wie
zum Gebet ineinandergeschlagen saß er da, den Blick nach oben
gerichtet. Seine Seele erhob sich zu dem Herrn, der ihn seiner
Familie und seinem Volk bis hierher erhalten hatte. Wohl
20 Minuten weilte der Kaiser in der Kirche. Dann fuhr er
unter dem Jubelruf der inzwischen herbeigeeilten Dorfbewohner
wieder zurück.
Der zudringliche Bürgermeister.
Kaiser Friedrich befand sich vor einigen Jahren als Kron¬
prinz in Süddeutschland. Des Abends saß er mit mehreren der
angesehensten Bürger einer kleinen Stadt in bester Unterhaltung
und der Bürgermeister, ein gemütlicher Schwabe, geriet in einen
so eifrigen Redefluß, daß er sich ganz vergessend, einen Knopf
der Uniform des Kronprinzen zwischen die Finger nahm und
an demselben in lebhaftester Weise hin- und herzerrte. Der
Kronprinz blickte ihn ein paar Sekunden mit großen Augen an,
bis er erschrocken die Hand von dem Knopfe ließ. Dann aber,
als der Arme wortlos und unglücklich, die Ungnade des hohen
Herrn befürchtend, vor sich hinstarrte, sprach dieser ernst, aber
ohne Unmut: „Ja, ja, wir Fürsten haben es sehr schlecht, wenn
sich jemand an uns vergreift, so können wir ihn nicht zum Duell
fordern; wir müssen immer still halten und haben keine andere
Waffe als die Höflichkeit."
Kaiser Friedrich und der Postillon.
Es war im Sommer 1886, als die Kaiserin Augusta zur
Stärkung ihrer Gesundheit im Bade Schlangenbad weilte. Kron¬
prinz Friedrich Wilhelm war mit der Bahn in Eltville ange¬
kommen, um von hier zu Wagen durch das reizende Thal nach
Schlangenbad zum Besuche seiner Mutter zu fahren. Zur Be¬