Full text: Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte

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IV. 1840-1900. 
Entschädigung getilgt. Die Kreisgerichte für Bezirke von 40—70000 
Einwohnern sowie die Appellatiousgcrichte ersetzten die früheren Unter- 
und Obergerichte, und das Obertribnnal erhielt die oberste Judikatur 
für die gesamte Monarchie.' Durch Artikel 5 u. 6 der Verfassung 
wurden Person und Wohnung des Staatsbürgers vor polizeilicher 
Willkür geschützt (Uui)6U8-E0riiii8-Akte). Alle „Ausnahmegerichte 
und außerordentlichen Kommissionen" wurden für unstatthaft erklärt 
(Art. 7). Trotz der heftigsten Gegenwehr der Konservativen wurde 
die Einführung der Zivilehe bestimmt lArt. 19, jetzt 16), die Zensur, 
die für Druckschriften von weniger als 4 Bogen Umfang bestanden 
hatte, völlig aufgehoben und ein Vereinsgesetz erlassen, das noch 
heute gilt. Da die Richter für unabsetzbar und unversetzbar erklärt 
wurden, so war damit ihre Unabhängigkeit, auf der das Vertrauen 
des Volkes zu der Unparteilichkeit der Rechtspflege beruht, gewährleistet. 
Die Befugnis, königliche Verordnungen ans ihre Verfassungsgemäßheit 
zu prüfen, wurde ihnen jedoch nicht zuerkannt. Diese Frage sollte, 
wenn nötig, nur zwischen Ministerium und Abgeordnetenhaus ver¬ 
handelt werden. Der letzte Rest der oberstrichterlichen Gewalt des 
Königs, der darin bestand, daß er die Todesurteile zu bestätigen 
hatte, wurde aufgehoben und an seine Stelle das Begnadigungsrecht 
gesetzt. 
Durch Art. 4 der Verfassung wurden alle Standesvorrcchte auf¬ 
gehoben, aber erst das Gesetz v. 22. Febr. 1869 beseitigte das nach 
dem Allgem. Landrecht noch geltende Eheverbot wegen Standesun¬ 
gleichheit. Die Stiftung von Fideikommissen wurde (Art. 40) 
untersagt und die noch bestehenden sollten durch gesetzliche Anordnung 
in freies Eigentum verwandelt werden. Aber schon 1852 gelang es der 
mächtigen Partei der Großgrundbesitzer, die Aufhebung dieses Artikels 
herbeizuführen. Seitdem vermehrt sich der Großgrundbesitz der toten 
Hand zum Nachteil der Volkswirtschaft von Jahr zu Jahr. Die 
Gleichheit aller Bürger gilt nur vor dem Gesetz; auf allen Gebieten 
des öffentlichen und privaten Lebens, die vom Gesetz nicht berührt 
werden, machen sich die altererbten Standesunterschiede noch immer 
geltend, und nur langsam werden sie vor einer höheren Bildung 
und einer Umformung der wirtschaftlichen Verhältnisse verschwinden. 
Nur die Furcht vor elementaren Gewalten, vor dem Einbruch des 
Landesfeindes oder vor der Revolution, machte vorübergehend die
	        
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