222
IV. 1840—1900.
Disziplin der Partei ungeschädigt war, und die gewählten Reichs¬
tagsabgeordneten hielten die Leitung trotz gelegentlichen Widerspruchs
in festen Händen. Der Versuch, die Arbeiter für einen Staats¬
sozialismus zu gewinnen, scheiterte völlig, und die von Stöcker in
Berlin wenige Monate vor den Attentaten gegründete christlich-
soziale Partei, die sich auf den Boden der Monarchie und der
bürgerlichen Ordnung stellte, gelangte bei dem ans politischem Ge¬
biete so zweifelhaften Charakter ihres Führers, dem es mehr um
kirchliche Orthodoxie und Hierarchie als um soziale Wundenheilung
und Versöhnung zu tun war, zu keinem Ansehen und keiner Macht.
Selbst das größte Ereignis ans dem Gebiet der innern Politik, die
mit der kaiserlichen Botschaft vom 17/11. 1881 eröffnete soziale
Gesetzgebung, welche den Organismus des Staats und die Steuer¬
kraft des deutschen Volkes zur Heilung der sozialen Schäden und
Gebrechen aufbot, ging vorerst spurlos an den Arbeitermassen vor¬
über, entzog sie nicht dem Zauber des sozialistischen Programms
und dämpfte nicht das Feuer des in ihnen entflammten Klasscn-
hasses. Wohl forderte der Rest des Lassalleschen Allgemeinen
deutschen Arbeitervereins in Hamburg am 22/11. 1881 zu einer
Unterstützung der kaiserlichen Sozialpolitik auf, aber ohne allen
Erfolg. Sein Organ, das „Hamburg-Altonaer Volksblatt", mußte
sogar 1882 eingehen. Der revolutionäre Drang in der Sozial¬
demokratie nahm vielmehr zu, angestachelt durch die aus England
massenhaft eingeschmuggelte Mostsche „Freiheit", welche die
Propaganda der Tat mit Dolch und Dynamit forderte. Es kam
zu dem furchtbaren Attentatsversuch Neinsdorffs, der gegen den
Kaiser und die deutsche Fürstenschaft bei der Enthüllung des National¬
denkmals auf dem Niederwald (1883) gerichtet war, und zur Er¬
mordung des Polizeirats Rumpff in Frankfurt a/M. (13U. 1885),
der sich um die Ermittelung jenes Attentats Verdienste erworben
hatte. Wohl hatten die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten,
welche theoretisch auf dem Boden des Marxschen Evolutionismus
standen und den naturnotwendigen Ruin, dem die Gesellschaft durch
ihren Kapitalismus entgegengehe, durch revolutionäre Gewalttaten
nur verzögert zu sehen glaubten, solchen unzeitigen Sturm und
Drang hintanzuhalten gesucht und sich auf dem Kongreß zu Kopen¬
hagen (1883) von den Sozialrevolutionären losgesagt. Aber als