30
Das tolosanische Reich der Westgothen. §. 10.
§• 10.
Das Reich der Westg-othen, 419—712.')
I. Das tolosanische Reich der Westgothen,
419-508 (531).
Früher als irgend ein anderes germanisches Volk waren die
Westgothen in ihren ältesten Wohnsitzen am schwarzen Meere
(s. S. 16) und an den Mündungen der Donau mit griechischer Bil¬
dung bekannt geworden, hatten am frühesten das Christenthum an¬
genommen (s. §. 12) und den Gebrauch der Schrift unter sich ver¬
breitet. An Kriegsruhm übertraf sie kein anderes germanisches Volk:
sie hatten die Residenz des oströmischen Kaiserthums durch Um¬
lagerung bedroht und die Hauptstadt des weströmischen Kaiserthums
durch Einnahme nach dreimaliger Einschliessung zuerst gedemüthigt
und geplündert. Sie überschritten die Alpen und die Pyrenäen und
gründeten, nachdem sie Europa vom Osten bis zum äussersten Westen
und bis in die Spitzen der drei südlichen Halbinseln durchzogen
hatten, mitten in den römischen Provinzen, selbst mit Bewilligung
des Kaisers, den ersten geordneten germanischen Staat: das tolosa¬
nische Reich (s. S. 19), welches sich auch gegen Attila’s drohenden
Einfall in Gallien behauptete. Der Sieg auf den catalaunischen Ge¬
filden w urde (nächst der Feldherrnkunst des Aetius) hauptsächlich der
Tapferkeit der Westgothen verdankt und mit dem Heldentode ihres
greisen Königs Theodorichl. (reg. 419—451) erkauft.
Nachdem noch Theodorich II. (reg. 453 — 466) im Aufträge
des weströmischen Kaisers (des von ihm in Gallien auf den Thron er¬
hobenen Avitus) die südliche Hälfte des Suevenreiches für Rom wieder
erobert hatte, beseitigte sein Bruder und Nachfolger Eurich (466
bis 485) nicht nur jede scheinbare Oberhoheit Roms über das West¬
gothenreich , sondern erhob dieses auch zur Grossmacht des euro¬
päischen Westens. Denn er eroberte nicht nur in Gallien alles Land
bis zur Rhone und Loire, sondern nahm auch, nach der Auflösung
des weströmischen Reiches, ganz Spanien bis auf den von den Sueven
behaupteten nordwestlichen Winkel (Galizien und Asturien) in Besitz
und gewann zuletzt jenseit der Rhone das Land bis zu den Seealpen
und der Durance. Zugleich liess er die unter den Gothen beobach¬
teten Rechtsgewohnheiten schriftlich aufzeichnen.
Wie im Vandalenreiche, so legte auch im tolosanischen der con-
») Aschbach, J., Gesch. <3. Westgothen, und F. W. Lembke, Gesch. von
Spanien. — Dahn, Felix, Gesch. der Westgothen. 1870.