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Stärkung und Schonung. Also gilt es, die Sinne, d. h. die Seelen-
kräfte, welches vermittels der Sinnesorgane wirksam sind, in gehörige
Pflege zu nehmen, die Sinnesorgane für ihren Dienst tauglich zu
erhalten und ihnen die notwendigen Reize zuzuführen, ohne sie zu über¬
reizen. Nur so kann die seelische Entwicklung Fortschritte machen. (Nach
Kahle.) Ihrer Bedeutung nach für die Geistesbildung ordnen sich die
Sinne folgendermaßen: Gesichts-, Gehörs-, Gefühls-, Geruchs- und
Geschmackssinn. Die beiden ersten sind für die Entwicklung des Geistes
die wichtigsten; doch dürfen die übrigen nicht unterschätzt und vernachlässigt
werden, weil sie ja bestimmte, wesentliche Seiten der Außenwelt erschließen
und die Thätigkeit der höheren Sinne unterstützen und ihre Auffassungen
vervollständigen.
3) Anschauungen. Nicht selten kommt es vor, daß die Wahrneh¬
mungen der Menschen sehr ungenau sind, daß diese mit sehenden Augen
nicht sehen und mit hörenden Ohren nicht hören. So fragte einst Dinter
einen Boten, der viele Jahre tagtäglich einen Wald hin und her passiert
hatte, ob derselbe Nadel- oder Laubholz habe. Der Bote wußte es nicht;
denn darauf hatte er nicht geachtet. Nicht zu verwundern ist es, daß uns
diese Erscheinung sehr oft bei den Kindern entgegentritt, weil ja deren
Auffassungsvermögen noch wenig entwickelt ist. Sie haben z. B. schon
oft eine Maiblume gesehen, haben auch einige hervorragende Merkmale
derselben mit Bewußtsein aufgefaßt; sollten sie aber eine Beschreibung
dieser Blume geben, so würde diese nur sehr unvollkommen ausfallen.
Die Maiblume wird nun in der Schule behandelt. Die Kinder müssen
ihre Augen absichtlich und anhaltend auf dieselbe richten; sie fassen zunächst
das Gesamtbild der Pflanze auf, lernen dann ihre Teile (Wurzel, Wurzel¬
stock, Stengel, Blätter, Blüte) kennen, untersuchen dieselben nach Zahl,
Form, Farbe, Größe, Stellung, vergleichen sie untereinander oder mit
ähnlichen Bildungen; der Geruchssinn untersucht die Krone, der Tastsinn
den Stengel und die Blätter. Auf diese Weise erhalten die Kinder ein
deutliches Bild von der Maiblume; sie haben diese nicht bloß gesehen und
wahrgenommen, sondern vielmehr angeschaut, die Wahrnehmung ist
zu einer Anschauung geworden. D ie Anschauung ist also eine
deutlicheAuffassungeinesGegenstandesinderGesamtheit
aller seiner Merkmale. Offenbar ist bei jeder Anschauung ein
Doppeltes zu unterscheiden: der Sinn als Organ und die Thätigkeit
der Seele, welche den Sinnreiz aufnimmt und verarbeitet. Vollständig
falsch wäre es, wollte man das Wesen der Anschauung nur in dem suchen,
was die Sinne thun. Wenn das Kind zählt, mißt, vergleicht, das Ganze
in seine Teile zerlegt, so ist wesentlich sein Geist in Wirksamkeit. Auch
das allerschärfste Auge sieht nicht, wenn der Geist nicht thätig ist. „Das
Licht ist da, und die Farben umgeben uns, allein trügen wir kein Licht
und keine Farbe im eigenen Auge, so würden wir auch außer uns
dergleichen nicht wahrnehmen" (Goethe). Wie Sinn und Geist in tief¬
innerlichem Zusammenhange stehen, wie besonders letzterer bei der Erfassung
eines Dinges von der größten Wichtigkeit ist, das hat Herbart in dem