Full text: Handbuch für den Anschauungsunterricht und die Heimatskunde

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Wenn ein Mensch sagt: „Ich weiß es wohl, kann es aber nicht sagen"^ 
so ist das ein sicherer Beweis, daß sein Wissen ein unsicheres ist. 
Der Anschauungsunterricht darf nun freilich den Unterrichtsstoff nicht 
nach sprachlichen Gesichtspunkten zerreißen, er darf die Sprachbildung auch 
nicht in theoretischer, sondern muß diese in rein praktischer Weise 
betreiben. Ehe die Kinder, zur Einsicht in den Bau der Sprache gelangen, 
müssen sie in derselben denken, sie gebrauchen lernen, — wie überall, 
so muß die Theorie der Praxis folgen. Das Kind bringt schon 
ein Stück Sprache mit in die Schule. Es hat dieselbe von seiner Um¬ 
gebung, besonders von seiner Mutter, gelernt; gar sinnig haben deshalb 
ja unsere Altvordern unsere deutsche Sprache „die Muttersprache" genannt. 
Das Kind hat ja die Dinge der Außenwelt, ihre Thätigkeiten, Eigenschaften, 
Menge u. s. w. angeschaut; die Mutter und alle Personen, die in der 
Umgebung des Kindes waren, haben ihm die Dinge, ihre Thätigkeiten,, 
Eigenschaften u. s. w. benannt, sie sind des Kindes Sprachlehrer gewesen. 
Die Schule setzt diesen Unterricht fort, sie folgt den Wege der Natur*). 
Durch den lebendigen Verkehr erhalten die Kinder Ding-, Eigen- 
schafts-, Thätigkeits- und Zahlvorstellung-m; sie lernen durch den Gebrauch 
der Sprache auf praktischem Wege konjugieren und deklinieren, die Ge¬ 
schlechts- und Verhältniswörter gebrauchen; mit Hülfe der Ableitung und 
Zusammensetzung werden sie in den Stand gesetzt, selbst mancherlei Wort¬ 
bildungen vorzunehmen. Die Kinder müssen z. B. die Verwandtschaft 
zwischen backen und Bäcker, sehen und Gesicht, raten und Rätsel, fliegen, 
Flügel und Flug sofort erkennen lernen. „Das Kind zeigt von selbst in 
der Ableitung wie in der Zusammensetzung der Wörter eine solche Erfind¬ 
samkeit und beutet die Wurzeln in einer Weise aus, daß ihm die Sprache 
darin nicht gleichkommt. Ohne Bedenken bildet es nach der Analogie aus 
„Ziegel" die in der Sprache nicht gebräuchlichen Wörter „ziegeln" (= Ziegel 
bereiten) und „Ziegler" (= der die Ziegeln Bereitende) u. dergl. m., und 
es hält für den Anschauungsunterricht nicht schwer, die Kinder zur Fer¬ 
tigkeit in der richtigen Bildung abgeleiteter und zusammengesetzter Wörter 
und zugleich zum Verständnisse ihrer Bedeutung zu bringen, wenn die 
Kinder auf Grund des behandelten Stoffes genötigt werden, die ge¬ 
wonnenen Anschauungen zu vergleichen und zu zerlegen und demgemäß 
*) „Das Lernen der Muttersprache erscheint in der Schule in derselben Gestalt, die 
es außer der Schule, so zu sagen in der Natur hat, als eine Fortsetzung der Art, wie 
das Kind zuerst und bis zum Eintritt in die Schule die Sprache lernte, und auch nach 
der Schulzeit beim Eintritt ins große Leben geht ja das weitere Lernen der Mutter- 
sprache in derselben Weise fort. Da wird einem ein neuer Gegenstand, sinnlich oder 
innerlich, bekannt, und in demselben Augenblicke, wo dieser im Interesse des kleinen 
und großen Menschen Fuß faßt, haftet auch das gehörte Wort dafür im Gedächtnis, 
während es vorher vielleicht schon oft an uns ungefaßt vorüber gegangen ist: man 
glaubte wohl oft das Wort schon ganz gut zu kennen, aber es mar vor dem Augen¬ 
blicke eine leere, farblose Hülse, ein Nichts, während es nun Gesicht und Farbe gewonnen 
hat, der Träger eines kleinen Besitzes von einem gewissen Werte, woran auch bei¬ 
läufig zu denken uns wohlthuend ist." Rud. Hildebrand in seiner geistreichen Schrift: 
„Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule."
	        
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