Full text: Staats- und Volkswirtschaftslehre

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Die stärksten und reichsten Sippen und solche, die sich ausgezeichnet 
hatten, genossen ein höheres Ansehen und besonderes Vertrauen, — 
die Taten ihrer Angehörigen wurden in Sage und Lied verherrlicht, 
die Geschlechter selbst als alt und heilig angesehen. Sie galten als 
Adel, unterscheiden sich indes von der Hauptmasse des Volkes, den 
Gemeinfreien, weder rechtlich noch sozial. Ohne Recht sind die Un- 
sreien, Kriegsgefangenen und Unterworfenen: doch hat sich ihre 
Stellung tatsächlich erträglich, wenn nicht gar freundlich gestaltet. 
Das gilt von den Freigelassenen, nämlich den Liten oder Laten, die 
wahrscheinlich teilweise die sich freiwillig unterworfene Urbevölkerung 
darstellen. Aus dem Adel werden die Vorsteher der Gaue (prin¬ 
cipe«), die Richter und die Herzöge, d. i. die Heerführer genommen; 
wird ihre Stellung eine dauernde, so entsteht wie bei den Ostger¬ 
manen (bes. den Goten) das Volkskönigtum. Träger der Staats¬ 
gewalt, insbesondere bei grundlegenden Entscheidungen, wie z. B. 
Krieg oder Frieden, und bei der Gesetzgebung ist indes die Land¬ 
gemeinde, die aus den waffentragenden Gemeinfreien besteht: sie 
versammelt sich mehrmals im Jahr zur Neu- oder Vollmondszeit als 
Ding, auch Volksding genannt. Wie schon angedeutet wird die 
Völkerschaft im Kriege von Herzögen oder Königen, der Gau oder 
die Hundertschaft vom Prinzeps, dem Fürsten, geführt, während die 
Dingberechtigten den Heerbann bilden. Eine Art Kriegsschule be¬ 
deutete die Gefolgschaft, bei der gewaffnete Männer, vor allem die 
adlige Jugend, sich einem Heerführer zum Kriegs-, meist wohl Beute¬ 
zug durch Treueid eine Zeit lang verpflichteten. Leichtere Rechtsfälle 
werden innerhalb des Gaues durch Rechtsspruch entschieden. Ver¬ 
brechen gegen die Gottheit kommen vor das Ding, das bei schweren 
Vergehen auf besondere Anrufung hin wohl über die Schuldfrage 
oder Höhe der Strafe (Buße, Wehrgeld) entscheidet, nicht aber selbst 
die Sühne übernimmt. Sonst tritt bei schwerem Frevel, wie Tot¬ 
schlag, Ehrverletzung usw. die Selbsthilfe ein, welche in Form des 
Fehderechts vonseiten der Sippe ausgeübt wird. Doch war der 
Weg der Buße möglich; weigerte jemand ihre Leistung, so trat der 
Zustand der Friedlosigkeit, d. h. der Ausstoßung aus Staat und 
Sippe, und Vogelfreiheil ein. 
Der Grund und Boden ist Eigentum des Gaues. Zur Zeit 
Cäsars (vgl. § 18e) erhielt jede Sippe jährlich wechselnd einen Teil 
zur Nutzung, zur Zeit des Tacitus hat jede Sippe ihre Feldmark 
dauernd in Besitz, jedoch bekommen die Familien jährlich wechselnd 
je einen Teil des Ackerlandes, während Wald, Weide, Wasser als 
sogenannte Allmende, Gemeinbesitz bleibt: die Hofstätte dagegen ist 
Privateigentum. Auf diese Weise entsteht die Markgenossenschaft, 
die namentlich in Mittel- und Norddeutschland heimische und sich 
von dort weiter verbreitende „volkstümliche deutsche Siedelung". 
Sicher läßt sich indes nicht entscheiden, ob diese Siedelung damals 
in Form von Dörfern oder einzelnen Gehöften bestand. Der' Ackerbau
	        
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