Full text: Staats- und Volkswirtschaftslehre

36 
[§9] 
Bei Feststellung des Staatszweckes kann man zwei Richtungen 
unterscheiden, die absolut-ideale und die relativ-konkrete. Jene kennt 
nur ein einziges für alle Zeiten gleichbleibendes Ideal, das entweder 
allumfassend oder begrenzt ist. Die allumfassenden oder expansiven 
Zwecklehren stellen entweder die Wohlfahrt des Staates und seiner 
Bürger in den Vordergrund (sog. eudämonistisch-utilitarische Theorie),, 
oder die Verpflichtung des Staates, die Sittlichkeit zu verwirklichen 
(sog. ethische Theorie), die mit dem Gedanken vom religiösen Beruf 
des Staates, wie ihn der Ultramontanismus und der Konservativis¬ 
mus vertreten, in naher Verwandtschaft steht. Die begrenzenden 
Theorien beschränken die staatliche Tätigkeit auf Wahrung der Sicher¬ 
heit, Freiheit und des Rechts. Hier ist dem Staate ein zu geringer 
Wirkungskreis zugewiesen, der leicht zur Unterdrückung der wirt¬ 
schaftlich Schwachen führen kann, wie beim Freihandel und Manchester¬ 
tum (§ 8). Die expansiven Theorien stecken dem staatlichen Ein¬ 
schreiten gar keine Grenzen, so daß leicht eine lästige Bevormundung 
entsteht, wie die Zeiten des Absolutismus und des Pvlizeistaates im 
18. Jahrhundert zeigen (§ 23). Soll dagegen eine Theorie der rela¬ 
tiven, aus der konkreten Wirklichkeit beruhenden Staatszwecke fest¬ 
gestellt werden, so ist zu beachten, das; für den Staat ganz be¬ 
stimmte menschlich-innerliche und natürliche Grenzen vorhanden sind, 
— die Herrschaft über die Geister ist ihm ebenso unmöglich wie die 
über die wirtschaftlichen Gesetze oder das Wachsen der Bevölkerung. 
Seine Tätigkeit muß sich daher aus äußere Anordnungen und Mittel 
beschränken, und kann sich nur auf Ordnen, Unterstützen und Be¬ 
wahren erstrecken. Sie betrifft die Förderung der Solidarinteressen 
zunächst des einzelnen, und dadurch der Gesamtheit. Daß diese 
Solidar- d. h. infolge innerer Übereinstimmung engverknüpften 
Interessen stetig zunehmen, liegt an der geschichtlichen Entwicklung 
der Kultur, insbesondere der wirtschaftlichen Zustände. Die Tätig¬ 
keit des Staates kann eine ihm ausschließlich zufallende sein, wie 
Machtbehauptung, Schutzgewährung, Rechtsbewahrung, oder eine 
mit der privaten in Wettbewerb tretende, wie Kultur-, Wirtschasts- 
und Wohlfahrtspflege. Die staatliche Tätigkeit ist entweder fördernd 
oder abwehrend. Erfolg wird ihr nur zu Teil werden, wenn sie 
von einem Mittelpunkt aus planmäßig ausgeht, und dabei 
nicht nur die individuelle und durch den Umfang des Staates und 
den Begriff der Nation gegebenen Solidaritätsinteressen, sondern 
auch die der^ Menschheit überhaupt berücksichtigt. Darum ist der 
Zweck des Staates in einer aus äußere Mittel beschränkteu, plan¬ 
mäßigen, zentralisierten Tätigkeit zu suchen, welche die individuellen, 
staatlich-nationalen und menschheitlichen Solidarinteressen umfaßt. 
d) Rechtfertigung. Von sozialdemokratischer und anarchisti¬ 
scher Seite wird die Notwendigkeit des Staates und somit seine 
Berechtigung geleugnet; man will an seine Stelle, wenngleich von 
sozialdemokratischer Seite aus nicht im vollen Umfange, eine staaten¬
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.