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[§9]
Bei Feststellung des Staatszweckes kann man zwei Richtungen
unterscheiden, die absolut-ideale und die relativ-konkrete. Jene kennt
nur ein einziges für alle Zeiten gleichbleibendes Ideal, das entweder
allumfassend oder begrenzt ist. Die allumfassenden oder expansiven
Zwecklehren stellen entweder die Wohlfahrt des Staates und seiner
Bürger in den Vordergrund (sog. eudämonistisch-utilitarische Theorie),,
oder die Verpflichtung des Staates, die Sittlichkeit zu verwirklichen
(sog. ethische Theorie), die mit dem Gedanken vom religiösen Beruf
des Staates, wie ihn der Ultramontanismus und der Konservativis¬
mus vertreten, in naher Verwandtschaft steht. Die begrenzenden
Theorien beschränken die staatliche Tätigkeit auf Wahrung der Sicher¬
heit, Freiheit und des Rechts. Hier ist dem Staate ein zu geringer
Wirkungskreis zugewiesen, der leicht zur Unterdrückung der wirt¬
schaftlich Schwachen führen kann, wie beim Freihandel und Manchester¬
tum (§ 8). Die expansiven Theorien stecken dem staatlichen Ein¬
schreiten gar keine Grenzen, so daß leicht eine lästige Bevormundung
entsteht, wie die Zeiten des Absolutismus und des Pvlizeistaates im
18. Jahrhundert zeigen (§ 23). Soll dagegen eine Theorie der rela¬
tiven, aus der konkreten Wirklichkeit beruhenden Staatszwecke fest¬
gestellt werden, so ist zu beachten, das; für den Staat ganz be¬
stimmte menschlich-innerliche und natürliche Grenzen vorhanden sind,
— die Herrschaft über die Geister ist ihm ebenso unmöglich wie die
über die wirtschaftlichen Gesetze oder das Wachsen der Bevölkerung.
Seine Tätigkeit muß sich daher aus äußere Anordnungen und Mittel
beschränken, und kann sich nur auf Ordnen, Unterstützen und Be¬
wahren erstrecken. Sie betrifft die Förderung der Solidarinteressen
zunächst des einzelnen, und dadurch der Gesamtheit. Daß diese
Solidar- d. h. infolge innerer Übereinstimmung engverknüpften
Interessen stetig zunehmen, liegt an der geschichtlichen Entwicklung
der Kultur, insbesondere der wirtschaftlichen Zustände. Die Tätig¬
keit des Staates kann eine ihm ausschließlich zufallende sein, wie
Machtbehauptung, Schutzgewährung, Rechtsbewahrung, oder eine
mit der privaten in Wettbewerb tretende, wie Kultur-, Wirtschasts-
und Wohlfahrtspflege. Die staatliche Tätigkeit ist entweder fördernd
oder abwehrend. Erfolg wird ihr nur zu Teil werden, wenn sie
von einem Mittelpunkt aus planmäßig ausgeht, und dabei
nicht nur die individuelle und durch den Umfang des Staates und
den Begriff der Nation gegebenen Solidaritätsinteressen, sondern
auch die der^ Menschheit überhaupt berücksichtigt. Darum ist der
Zweck des Staates in einer aus äußere Mittel beschränkteu, plan¬
mäßigen, zentralisierten Tätigkeit zu suchen, welche die individuellen,
staatlich-nationalen und menschheitlichen Solidarinteressen umfaßt.
d) Rechtfertigung. Von sozialdemokratischer und anarchisti¬
scher Seite wird die Notwendigkeit des Staates und somit seine
Berechtigung geleugnet; man will an seine Stelle, wenngleich von
sozialdemokratischer Seite aus nicht im vollen Umfange, eine staaten¬