Full text: Deutsche Lebensfragen

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IV. Deutschlands Weltmachtstellung 
stärkt hat, wie sie den Staat demokratisiert, die Gesellschaft ausgeglichen 
und so den eigenen Instinkten des Volkes größeren Raum gewährt hat. 
Das neue Rußland nähert sich Europa mit dem Mund, aber sein herz 
ist noch immer weit von ihm entfernt. 
„Vas Testament des Zaren Peter" schrieb Rußland die Rusgabe des 
alten Mazedonien und später des Römischen Raisertums zu, nämlich die, 
in einem Reiche eine ganze Rulturepoche zusammenzufassen und abzu¬ 
schließen. Die Erfahrung des großen Rrieges im Osten und spätere 
nahmen diesen Rlp von der Rrust Europas, indem sie die tönernen Füße 
des Rolosses entblößten, und es ließen sich damals sogar Stimmen hören, 
die den Zerfall des Reiches prophezeiten. Die parallele Mazedonien 
gegen Griechenland wurde von einer anderen abgelöst, der des alten 
Persien gegen Griechenland. Uber diese Stimmen dürften bereits wieder 
verstummt sein. Die Großmacht Rußlands besitzt zu starke Wurzeln in 
der Geschichte, als daß sie mit einem politischen System sterben könnte. 
Die russische Gefahr steht in diesem Augenblick wieder am Himmel, nicht 
weniger gefahrdrohend als vor einem halben Jahrhundert, wo Henri 
Martin gegen dieselbe das Losungswort erhob: „Europa den Euro¬ 
päern". 
Ohne Zweifel täten Europas Mächte klug daran, auf solche Wächter¬ 
rufe zu hören und ihre Widerstandskraft durch Zusammenschluß zu stär¬ 
ken. Einen ganz besonderen Grund hierzu haben sie bereits in dem 
welkenden oder abnehmenden Wachstum ihrer Stämme im vergleich 
zu dem frischen Grünen des slawischen Stammes. Uber in dem Prozeß 
kommt noch ein Moment hinzu, der für die Zukunft geeignet ist, die 
Drohungen des mystischen Testamentes zu mildern. Die mazedonisch¬ 
römische und die altpersische parallele leiden, was Rußland betrifft, an 
einem gemeinsamen Fehler, nämlich dem, seine Zukunft nur in Verbin¬ 
dung mit Europa zu betrachten. Zeine pazifische Politik hat diese Vor¬ 
aussetzung ein für allemal zu einer veralteten gemacht, indem sie Ru߬ 
land zwei Fronten, die in Asien -neben der in Europa, gegeben hat. Der 
Druck Rußlands auf Europa dürste also mit der Zeit ausgeglichen wer¬ 
den durch den Gegendruck auf Rußland vom „großen Grient" her, nach¬ 
dem dieser jetzt endgültig in das Staatensystem eingetreten ist. 
Je mehr die dunklen Wege der Geschichte erhellt werden, desto mehr 
glauben wir daher eine neue Perspektive mit immer bestimmteren Um¬ 
rissen über das „svätaja Rossija“ (heiliges Rußland) sich erheben zu 
sehen: nicht mehr ein welteroberndes Mazedonien oder Rom, noch we¬ 
niger ein baufälliges Reich des persischen Großkönigs, sondern auch poli¬ 
tisch den vermittelnden und mildernden Puffer zwischen den beiden Rul- 
turwelten, die es geographisch verbindet, — Europa und Asien, den 
Weißen und Gelben. 
L h Dr. Kjellén in dem Buche „Die Großmächte der Gegenwart" 1914.
	        
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