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Ahnungen beschlichen sie, und schon begann sie in Gedanken zu 
bereuen, dass sie heimlich von Vater und Mutter gegangen war. 
Nach dem Essen kamen Spielleute und spielten ihre schönsten 
Stücklein auf. Dann gingen sie herum, die Gaben der Gäste 
einzusammeln. Aber kaum hatten Bräutigam und Braut, als die 
ersten, ihre Gabe auf den Teller gelegt, so erschien an der Türe 
des Hochzeitsgemaches der Richter mit etlichen starken Männern, 
und bald waren die Räuber alle gefangen und mit starken 
Fesseln gebunden. Gotelind ward in dem Gedränge ihr Braut¬ 
kleid zerrissen, und sie floh voll Angst und Kummer hinter 
einen Zaun. Die Räuber wurden zum Tode verurteilt und von 
dem Henker hingerichtet; dem zehnten schenkte der Henker nach 
seinem alten Rechte das Leben, und dieser zehnte war Helm¬ 
brecht. Doch wäre ihm der Tod besser gewesen, denn der 
Henker strafte an ihm, dass er seine Eltern verachtet hatte; er 
stach ihm die Augen aus und hieb ihm eine Hand ab. 
Von einem Knaben liess sich der blinde Helmbrecht nun zu 
seines Vaters Haus führen, und flehentlich bat er, ihn daselbst 
aufzunehmen. Dem Vater brach fast das Herz entzwei, als er 
seinen Sohn so reden hörte; aber er sprach: „Einen, den ich nie 
mit meinen Augen gesehen habe, wollte ich lieber aufnehmen als 
dich. Wie trotzig zogst du in die Welt! Da hat manches Herz 
um deinetwillen geseufzt, und mancher ehrliche Mann ist durch 
dich des Seinen beraubt worden. Gedenke an meine Träume! 
Zum Teil sind sie schon eingetroffen, denn blind und verstümmelt 
bist du heimgekehrt. Nun wird sich auch das Ende meines 
Traumes erfüllen, und darum will ich dich nicht aufnehmen. 
Knecht, schliels das Tor und stoss den Riegel vor!“ Der Vater 
war ins Haus gegangen. Die doppelt unglückliche Mutter, die 
an dem Unglück ihres Sohnes einen grossen Teil der Schuld trug 
und nun den Unglücklichen nicht in ihr Haus aufnehmen durfte, 
holte ein Brot herbei und gab es ihrem Kinde. Dann ging der 
Blinde an der Hand seines Führers dahin; die Bauern aber riefen 
ihm nach: „Ja, Dieb Helmbrecht, hättest du den Pflug zur Hand 
genommen, so brauchtest du jetzt nicht den Blindenstecken zu 
tragen.“ 
Ein Jahr lang litt der Blinde Not. Da ging er eines 
Morgens durch einen Wald , in welchem Bauern Holz fällten. 
Als sie ihn sahen, sprach der eine: „Da kommt der Blinde, der 
mir einst eine Kuh geraubt hat.“ Ein anderer sprach: „Ich will 
ihn zerreissen in Stückchen, die kleiner sind als Sonnenstäubchen; 
denn er hat mir und meinen Kindern die Kleider vom Leibe ge¬ 
stohlen.“ Der dritte sprach: „Mir hat er meine Hütte aufge¬ 
brochen und daraus genommen alles, was ich hatte.“ Alle 
stürzten mit Geschrei auf Helmbrecht los. „Nimm deine schöne 
Mütze in acht, mit der du so geprahlt hast,“ riefen sie ihm
	        
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