Object: Alte Geschichte (Teil 1)

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nicht!" So wurde denn Crösus gefangen genommen und zu Cyrns 
geführt, damit dieser bestimme, was mit ihm geschehen solle. Cyrus be¬ 
handelte den Armen eben so freundlich wie früher den Astyages; er 
unterhielt sich lange mit ihm und behielt ihn als Freund und Rathgeber 
bei sich. Die Sage erzählt freilich so: „Als Crösus gefangen vor Cyrus 
geführt wurde, befahl dieser, daß mau einen Scheiterhaufen errichten und 
den gefangenen König nebst den vornehmsten lydischen Jünglingen ver¬ 
brenne. Als nun die Unglücklichen auf dem Holze standen nnd einige 
persische Krieger herantraten, dasselbe anzuzünden, da gedachte Crösus 
des weisen Solon und daß dieser ihn einst aufmerksam gemacht habe, 
wie wandelbar das Glück fei. Voll Schmerz ries er aus: „Solon! 
Solon! Solon!" Cyrus hörte diese Worte, und da sie seine Neugierde 
erregten, fragte er nach ihrer Bedeutung. Da antwortete Crösus: „Ich 
gedachte einer frühern Zeit, wo ich der reichste König in Asien war und 
mich auch für den glücklichsten hielt. Einst kam Solon, ein weiser Mann 
aus Athen, zu mir. Ich nahm ihn srenndlich auf. Eines Tages zeigte 
ich ihm meine Schatzkammern, die mit Gold, Silber nnd Edelsteinen an¬ 
gefüllt waren, und fragte ihn dann: „Glaubst du nicht, lieber Solon, 
daß ich der glücklichste Mann auf der Erde bin?" Solon erwiderte 
ernst: „Reich bist bu, o König, aber glücklich preise ich niemand vor sei¬ 
nem Ende!" „Hast bu beim keinen Menschen gekannt, ben bu zu den 
Glücklichen rechnen möchtest?" fragte ich weiter. „Erlaube mir," ant¬ 
wortete der Weife, „daß ich dir eine Geschichte erzähle." In Athen 
wohnte Tellns, ein einfacher Bürger. Er wurde wegen seiner Tugend 
von allen Mitbürgern geehrt und geliebt, er sah eine Schaar gesunder 
und guter Kinder und Enkel um sich heranwachsen und fiel zuletzt als 
Greis in einem Kampfe für seine Vaterstadt, doch sah sein brechendes 
Auge noch den Sieg seiner Mitbürger. Ihn preise ich glücklich; denn 
er hat nicht allein glücklich gelebt, sondern sein Glück dauerte auch, bis 
fein Auge sich schloß. Ich lächelte spöttisch darüber, daß er einen so ge¬ 
wöhnlichen Menschen, wie Tellns, mir vorziehe, und sagte: „Und Tellus 
wäre der einzige Glückliche, den du hast kennen lernen?" Solon er¬ 
wiederte: „Der wahrhast Glücklichen giebt es wenige auf Erden; denn 
die seligen Götter wollen nicht, daß die Menschen ihnen gleichen. Ich 
kenne nur noch ein Brüderpaar, Kleobis undBitou, Söhne einer hoch¬ 
betagten Mutter. Einst mußte die alte Frau — die eine Priesterin der 
Juno war — in den Tempel, um zu opfern. Da blieben aber die 
Stiere ans, die ihren Wagen dorthin ziehen sollten. Weil sie nun den 
weiten Weg — es waren über zwei Stunden — nicht mehr zu Fuße 
machen konnte, spannten ihre Söhne aus kindlicher Liebe sich vor den 
Wagen und fuhren sie raschen Laufes zum Tempel. Das Volk war schon 
versammelt, und als es hörte, weshalb die Söhne das gethan, rief es: 
„Wie glücklich bist du, alte Mutter, daß du so starke und so liebevolle 
Söhne besitzest!" Die Mutter fühlte das auch, ging in den Tempel und
	        
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