XIX. Allegorie und Vergleichung.
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Die Spindel auf der Stelle
Sie in die Ferse stach.
15. Was war das für ein Schrecken.
Als man sie Morgens traf!
Sie war nicht mehr zu wecken:
Sie schlief den Zauberschlaf.
Ein Lager ward bereitet
Im hohen Rittersaal.
Goldstoffe drans gebreitet
Und Rosen ohne Zahl.
16. So schlief sie in der Halle
Die Fürstin, reich geschmückt.
Bald hatte die Andern alle
Der gleiche Schlaf berückt H.
Die Sänger, schon in Träumen,
Rührten die Saiten bang.
Bis in des Schlosses Räumen
Der letzte Laut verklang.
17. Die Alte spann noch immer
Im stillen Kämmerlein 2 *);
Es woben in jedem Zimmer
Die Spinnen, groß und klein.
Die Hecken und Ranken woben
Sich um den Fürstenbau,
Und um den Himmel oben
Da spann sich Nebelgrau. —
18. Wol nach vierhundert Jahren
Da ritt des Königs Sohn
Mit seinen Jägerscharen
Ins Waldgebirg davon:
„ Was ragen doch da innen
Ob all dem hohen Wald
Für graue Thürm und Zinnen
Von seltsamer Gestalt?"
19. Am Wege stund gerade
Ein alter Spindelniann -I:
„Erlauchter Prinz, um Gnade'
Hört meine Warnung an!
Romantische Menschenfresser
Hausen auf jenem Schloß,
Die mit barbarischen! Messer
Abschlachten Klein und Groß."
20. Der Königssohn verwegen
Thät mit drei Jägern ziehn:
Sie hieben mit den Degen
Sich Bahn zum Schlosse hin.
Gesenket war die Brücke.
Geöffnet war das Thor,
Daraus im Augenblicke
Ein Hirschlein sprang hervor.
21. Denn in des Hofes Räumen
Da war es wieder Wald,
Da sangen in den Bäumen
Die Vögel mannigfalt.
Die Jäger ohn Verweilen
Sie drangen muthig hin,
Wo eine Thür mit Säulen
Aus dem Gebüsch erschien.
22. Zween Riesen schlafend lagen
Wol vor dem Säulenthor,
Sie hielten, ins Kreuz geschlagen^),
Die Hellebarden^) vor;
Darüber rüstig schritten
Die Jäger allzumal,
Sie giengen mit kecken Tritten
Zu einem großen Saal.
23. Da lehnten in hohen Nischen 6)
Geschmückter Frauen viel,
Gewappnete Ritter dazwischen
Mit goldnem Saitenspiel7).
Hochmächtige Gestalten,
Geschloßnen Auges 8), stumm,
Grabbildern gleich zu halten
Aus grauem Alterthum.
24. Und mitten ward erblicket
Ein Lager, reich von Gold,
Da ruhte, wohlgeschmücket,
Eine Jungfrau wunderhold.
Die Süße war umfangen
Mit frischen Rosen dicht,
1) Befallen, überwältigt. — 2) Die gelehrte Stubcupoesie dauerte fort, nachdem die lebendige
Volkspoesie längst verklungen war: Gottsched u. a. Dichter des 18. Jahrh. — 3) „Ein (spindel¬
dürrer. hektischer) Rezensent, der gegen die neuerwachte, s. g. romantische Poesie (gegen Ende des 18.
und im Beginn des 19. Jahrh.) zu Felde zieht." Götzinger. — 4) Kreuzweise. — 5) Richtiger Helle¬
barte, mhd. llötmbarto, d. i. Barte (breites Schlagbeil) zum Zerschmettern der Helme, ein
Spieß mit einer Barte an der Spitze, also zugleich Hieb- und Stichwaffe. — 6) Französ. rüollo, ital.
riicchia == Mauervertiefung. — 7) Mit Saiten bespanntes Touwerkzeug. hier Harfe. — 8) Absoluter
Genitiv der Schilderung. Schulgr. §• 456, 2. Kl. Gr. §. 287.
Kehrein, Lesebuch. Obere Lehrstufe.
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